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Neue Musik macht sich verständlich

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Kann Musik dem Menschen helfen? Musik, die nicht einem therapeutischen (also von außermusikalischen Erwägungen mit bestimmten) Ziel dient? Der Komponist Dieter Schne- bel denkt über diese Frage seit zehn Jahren nach. Und während dieser ganzen Zeit beschäftigte ihn die Arbeit an den „Maulwerken“: einer Musik, die ihren Ursprung, ihren Entstehungs-Grund nicht in bestimmten Überlieferungen und Konventionen hat, die man erlernen oder auch verlernen muß, sondern im Menschen selbst, in der Art und Weise, wie er artikuliert, seine Stimmorgane gebraucht.

Etwas artikulieren heißt: seinen Empfindungen Ausdruck geben, sich dem Mitmenschen verständlich machen, kommunizieren mit anderen; es bedeutet Zustimmung, Mißstimmung, Übereinstimmung ausdrücken, An-

passung, Distanzierung, Widerstand üben. An der Artikulation und der daraus gesteuerten Kommunikation wird deutlich, ob der Mensch über eine ausreichende Ich-Stärke verfügt oder ob er hilfsbedürftig ist.

In Donaueschingen war 1974 die integrale Großform der „Maulwerke“ für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte uraufgeführt worden, eine „Maulwerke“-Sinfonie sozusagen mit Stimm-Profis und Laien, Film, Dias und Lichtspielen. Das Drum und Dran (auch des hochgestochenen Do- naueschinger Musikbetriebes) wirkte etwas erdrückend, nicht zuletzt wohl auf den Komponisten selber; Schnebel hat fortan immer eine Auswahl aus den möglichen „Maulwerke“-Prozes- sen getroffen und wechselnde Verläufe vor allem mit der von ihm gegründeten Arbeitsgemeinschaft Neue Musik am Oskar-von-Miller-Gymna- sium München erarbeitet. Neue Akzente setzte vor einem halben Jahr Schnebels Übernahme einer Professur für experimentelle Musik an der Hochschule der Künste Berlin.

Das Projekt „Maulwerke“ überführte nicht nur Theorie in Praxis, sondern vereinte auch Studenten aus verschiedenen Fachbereichen. Angehende Musiker, Musikwissenschaftler, Sänger und Schauspieler, Ton- und Video-Techniker waren daran interessiert; dazu kamen Studenten der Büh- 'nenbildklasse von Professor Achim Freyer. Ein ganzes Sommersemester und noch ein Teil der Ferien standen für die Ausarbeitung einer szenischen Fassung zur Verfügung. Die „Maulwerke“ drängten gleichsam von sich aus, kraft der in ihnen angelegten Kommunikationsmodelle und über die arbeitsbedingt entstehenden Gruppenprozesse, zur räumlichen Entfaltung. Das Ergebnis war jetzt im Theatersaal der Hochschule noch einmal zu besichtigen.

Neun Spielerinnen und Spieler, zwei Kameraleute auf der Szene, Ton- und Bildtechniker an Mischpulten, Beleuchter: Die Video-Technik ist hier wirklich einmal organisch und zwingend, will sagen: zwang-los und wie selbstverständlich eingesetzt. Es gibt Soli, begleitet und unbegleitet, Duos und Tutti, zugleich, nacheinander und „punktuell“; die Soli sind Ausbrüche, Monologe, Ansprachen, kleine Monodramen, die Duos Dialoge, Streit, Liebe, Zuwendung, Abwendung, von den anderen als der „Außenwelt“ registriert, das Tutti mündet in eine Publikums-Beschimpfung ohne Worte. Noch sind die emotiven Gruppener- fahrungep des Workshop spürbar, doch die Aufführung hat sich im Grunde davon gelöst, läuft um eine Spur zu perfekt ab. Die Selbsterfahrung, Selbstfindung, die Ich-Stärkung waren das Wesentliche; „vorführbar“ ist dies freilich nicht, doch an der Sicherheit, mit der jeder zu seinem „Typ“ steht, ablesbar. Schnebel selber, zeigte sich an diesem Abend und in Gesprächen mit den Beteiligten, braucht die Menschen, doch er „gebraucht“ sie nicht. Selbstverständlich ist das keineswegs im Kunstbetrieb.

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