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Nostalgie

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Nostalgie — so das Wörterbuch - ist die Sehnsucht nach dem Natürlichen, Heilen und/oder nach der Vergangenheit. Praktisch ist es immer Sehnsucht nach den vergangenen Zeiten, denn heile und natürliche Welt gab es ausschließlich nur in der jeweiligen Vergangenheit.

Die Gegenwart war zu allen Zeiten mehr oder minder mies. Hätte es je eine Epoche gegeben, mit der die Zeitgenossen zufrieden gewesen wären, wäre sie uns bis heute erhalten geblieben.

Die Freudianer behaupten, daß sich der Mensch das Leben lang nach der Geborgenheit sehnt, die

er im Mutterleib hatte. Dies ist verständlich, denn diese neun Monate sind die einzige Zeit im Leben eines jeden Menschen, die er in einer heilen und natürlichen Welt verbrachte.

Die Vergangenheit eignet sich für nostalgische Gefühle vorzüglich. Man kann sie im nachhinein verschönern, ihr gute Eigenschaften zuschreiben, die die Zeitgenossen nicht bemerkten, weil es sie nicht gab.

So schreibt man auch posthum großen Männern und Frauen Tugenden zu, die sie im Leben nicht besaßen. Man kann als schön empfinden, was man früher für scheußlich und für den Inbegriff des Kitsches hielt, wie den Jugendstil-Nippes oder Schlager aus den fünfziger Jahren.

Man verschönert die Vergangenheit mit dem weichen roten Licht der absichtlich lückenhaften Erinnerung, wie man es auch mit der eigenen Jugend tut, obwohl kein Mensch mit zwanzig bedeutend besser war als mit fünfzig oder sechzig — vielleicht kannte er sich selbst damals noch nicht so genau, hatte noch nicht so viele Beweise seiner Unzulänglichkeit angesammelt.

Nostalgie ist immer eine stille Bankrotterklärung, ein leises Schuldbekenntnis: „Wir verpatzen die Welt und unser eigenes Leben; die Menschen vor uns — oder wir selber — haben es einst besser gemacht.“

In unserer Zeit rast die Nostalgie im Jet-Tempo. Die nostalgisch aufgewerteten Epochen rücken immer näher. Nicht nur die Zwanziger mit ihrer Armut, den sozialen Gegensätzen, der Nachkriegsschieberei und der Inflation wurden schon vergoldet, auch die entbehrungsreichen, halbhungrigen Fünfziger. Gleich kommen die Sechziger an die Reihe, denn ihre Tumulte - und auch die Hoffnungen, die sie brachten - sind schon vergessen.

Wir beeilen uns mit unseren Nostalgien, weil wir wohl Angst haben, demnächst selbst zur nostalgischen Erinnerung zu werden -für die wenigen Menschen, die unseren dritten Weltkrieg überleben, der schon seit langem tobt, wenn auch nicht direkt bei uns.

Ob wir uns total ausrotten oder auf natürliche Weise, durch Verkehrsunfälle, Bombenattentate, Infarkt und Krebs allmählich aussterben — was wird von dem, was wir geschaffen haben, nostalgisch aufgewertet werden?

Werden es unsere niedlichen und gemütlichen Betonklötze sein, unsere Städte, die noch ab und zu voneinander getrennt sind, oder unsere Behausungen überhaupt, die noch auf und nicht unter der Erdoberfläche standen?

Unsere Klamotten, die noch nicht ganz einheitlich waren? Unser Fernsehen, das noch abgeschaltet werden konnte? Unsere Bücher, von denen manche sogar ein ganzes Jahr im Umlauf waren? Unsere Touristik, die auf den Stränden höchstens drei Menschen pro Quadratmeter konzentrierte?

Oder wird man sich — ganz im Gegenteü — nostalgisch an die Goldenen Achtziger erinnern, in denen man mehr als drei Menschen in Reichweite hatte?

Man wird wirklich nostalgisch, wenn man an die vergangenen Zeiten denkt, in denen man noch keine solche Angst vor der künftigen Nostalgie haben mußte.

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