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Österreichs Schule weltweit verglichen

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Angesichts des Stagnierens der österreichischen Schulreform-Diskussion erscheint ein Buch im rechten Augenblick: Walter Berger vergleicht die Schulsysteme in den USA, in England, Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Österreich, bemüht, Einstellungen zu entdogmatisieren und neue Impulse zu geben. Wir stellen die hier zitierten Ausführungen zur Diskussion.

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Angesichts des Stagnierens der österreichischen Schulreform-Diskussion erscheint ein Buch im rechten Augenblick: Walter Berger vergleicht die Schulsysteme in den USA, in England, Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Österreich, bemüht, Einstellungen zu entdogmatisieren und neue Impulse zu geben. Wir stellen die hier zitierten Ausführungen zur Diskussion.

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Sollte ein Staat der Überzeugung sein, das „beste Schulsystem“ zu haben, so könnte er diese Aussage nur auf der Basis des Vergleiches mit den Systemen anderer Staaten machen. Berger bemüht sich um eine kritische Zusammenschau, um die Analyse der Bedingungsfaktoren und um das Aufzeigen der Trends, die international registrierbar sind:

An der Nahtstelle vom Vorschulbereich zur Grundschule begegnen wir erstmals dem Gedanken der organisch gleitenden Ubergangsformen, die an die Stelle der punktuellen Ausleseentscheidungen bis in den universitären Bereich treten sollen. Die Dynamik der Individualisierung im Sinne der Berücksichtigung individueller Entwicklungsrhythmen scheint die Statik der Formalisierung abzulösen, wie sie von den bürokratischen Denkschemata aus der schulischen Gründerzeit der Schule aufoktroyiert worden sind.

In der Sekundarstufe I - zwischen 10 und 14 Jahren-verdichtet sich die Diskussion geradezu weltweit auf das Thema der leistungsmäßigen Selektion, die immer auch eine soziale ist. In der gemeinsamen Schulung aller älteren Pflichtschüler wird somit nicht nur das individualistische Prinzip der möglichst umfassenden Aktivierung der Lerndispositionen des einzelnen wirksam, sondern auch das demokratisierende der Annäherung und Kooperation der verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Die Gesamtschulentwicklung schreitet international unabhängig von der parteipolitischen Gebundenheit der jeweiligen Regierung eines Landes fort: „Das nie sozialistisch gewesene Amerika kennt seit jeher nur den Gesamtschultyp, und noch bezeichnender ist, daß die gemeinsame Mittelstufe in Frankreich eine konservative Schöpfung ist“ Ähnlich bedeutsam ist der Aufweis des Variantenreichtums hinsichtlich der Unterrichtsorganisation und ihrer Berücksichtigung der unterschiedlichen Lernfähigkeit und Lernbereitschaft der Schüler (family N grouping, setting, innere Differenzierung, Niveaustufen ab der beginnenden Interessensdifferenzierung): Von der Gesamtschule zu sprechen wird als Fehler entlarvt.

Die in den einzelnen Ländern ausgebildeten Formen der Sekundarstufe II lassen sich nach Berger einzelnen Stationen auf dem Weg von der Typen-Oberstufe (Beispiel Österreich) über das Kern-Kurssystem zur Gesamtschuloberstufe zuordnen. Zu den Zielvorstellungen dieser Gesamtschuloberstufe zählen:

• Reduzieren des verbindlichen Kanons von Gegenständen einer sogenannten Allgemeinbildung und Vermehrung der alternativen Schwerpunktstudien auf mehr als die Hälfte der Wochenstunden.

• Flexible Organisation, das heißt Auflockerung der Jahrgangsklassen und Auflösung fixer Jahrgangspen-sa.

• Überbrückung der Kluft zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung, zwischen der Schule als Lernreservat und der Arbeitswelt.

• Vorrang interdisziplinär übergreifender Studienfelder.

• Training im selbständigen Lernen und kritisches Sichten der gebotenen Informationen durch seminarähnliche Arbeitsweisen.

• Schaffung verschiedenstufiger, unterschiedlicher “Berechtigungen tragender Bildungsabschlüsse (Seite 203/4).

Es wäre reizvoll, all die Daten und Kommentare zu referieren, die sich auf die Achillesferse des Schulsystems, die Zensurengebung, beziehen. Problembehaftet ist dieser Aufgabenbereich in allen Ländern, die in diese Vergleichsstudie einbezogen worden sind. Kein Vorschlag soll unbesehen übernommen werden, nicht der des totalen Fallenlassens der No-tengebung in einigen inoffiziellen Schulversuchen Frankreichs (84), wie auch nicht der des „Marking-Sy-stems“ oder der pädagogischen Buchführung in individuellen Sammelmappen, so bedenkenswert diese englischen Gepflogenheiten auch sind.

In der Frage nach dem Ausmaß der für die Schule optimalen Eingriffe durch den Staat und der zentralen Lenkung wird es dem durch die englischen Denkformen der direkten Demokratie geprägten Verfasser beinahe schwer, emotionsloser Referent und Kommentator der österreichischen Verhältnisse zu bleiben. Er verleugnet nicht, daß gegen manche ausufernde Entwicklung totaler Schulautonomie in England und in den USA Gegenmaßnahmen eingeleitet worden sind - und er begrüßt sie. An der grundsätzlichen Anerkennung der Pluralität in der Schulentwicklung aber wird in den diesbezüglich beispielgebenden Ländern nicht gerüttelt

Von ihnen gehen Reformprogramme aus, die um folgende Kerngedanken kreisen:

• Entbürokratisierung, mehr Lehrerinitiative, mehr Pädagogik, weniger Legistik;

• Abwertung des bürokratischen Axioms der Vereinheitlichung und Aufwertung der autonomen Vielfalt.

• Vorrang der überschaubaren und daher zielsicherer zu verwaltenden lokalen Einheiten (Seite 24/25).

Indem sich Berger mit diesen Trends identifiziert, will er nicht das ganze Gesellschaftssystem verändern, sondern nur das Subsystem Schule auf dasjenige Demokratisierungsniveau heben, das unser Staat als Ganzer erklommen hat

Von den extremen progressiven Ideologien, die über die Schule die Gesellschaft verändern möchten, setzt er sich entschieden ab. Die Schule ist dazu „weder fähig noch berufen“! (S. 183) In der Auseinandersetzung mit Bourdieu und Passeron wendet er sich in ähnlich scharfen Worten sowohl gegen die „Egalisten“ und „Nivellierer“ („Man kann nicht den einen Angebote vorenthalten, weil die anderen nicht im gleichen Maße von ihnen zu profitieren vermögen“, S. 182) wie auch gegen die „Elitisten“, die „die soziologischen und individualpsychologischen Voraussetzungen für die Aktualisierung von Begabungen“ ignorieren.

Extreme Ideologien, konservative wie progressive, haben ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit, sagt Berger: „Jene wollen einen unabweisbar neuen Wirklichkeitskontext nicht wahrhaben und tendieren dazu, ihn mit Scheinreformen abzutun, die am Status quo nichts ändern; diese wollen den gewordenen Schulkontext nicht wahrhaben und tendieren dazu, ohne inneren Anschluß an ihn eine spekulative Reform weit... aufzubauen“. (S. 283)

(Der Rezensent ist Direktor der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz)

SCHULENTWICKLUNGEN IN VERGLEICHENDER SICHT. USA, England, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Schweiz und Österreich. Von Walter Berger. Verlag für Jugend und Volk, Wien, München 1978, 303 Seiten, öS 248,-.

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