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Rätsel zu entschlüsseln
Der Philosoph Roland Barthes hat das zeitliche Voranschreiten einer Spielfilm-Handlung als Entfaltung eines Rätsels beschrieben, das frün in die Erzählung eingeschrieben wird und auf dessen Lösung wir begierig harren. Wie versponnen die Fäden im Labyrinth der Erzählung auch sein mögen, nach neunzig Minuten wird unsere Geduld belohnt: Die Wahrheit stellt sich heraus, die ins Wanken gekommene Ordnung wieder ein.
Die Reise entlang der Höhen, Tiefen und (manchmal) auch Untiefen der Story fällt dem Zuseher nicht schwer. Dafür sorgt der standardisierte Formenkanon des industri-ell-narrativen Kinos. Die Bildfolgen werden quasi automatisch dechiffriert, mit dem einfachen und unbekümmerten Blick, der den Betrachter von seinen ersten Kinoerlebnissen an durch unzählige Spielfilme geleitet und des jeweiligen Rätsels Lösung nähergebracht hat.
Wer einmal einen Experimentalfilm gesehen hat, dem mag der Eindruck in den Sinn gekommen sein, daß hier das Rätsel nicht enden will - falls er nicht zuvor schon irritiert das Kino verlassen hat. Dem Zuseher wird vom experimentellen Film nicht nur ein Blick auf das andere, weniger Bekannte, sondern schlichtweg ein anderer Blick abverlangt. Die Bedeutung der Bildfolgen offenbart sich nicht automatisch, sie will erst interpretativ erschlossen werden - in Auseinandersetzung mit dem individuellen kinematografischen Sprachgebrauch eines Filmemachers.
Ende der fünfziger Jahre entdeckte eine erste Generation österreichischer Künstler das Medium Film. Das Material Film sollte auf Gestaltungsmöglichkeiten hin untersucht werden, die jenseits der historisch dominanten Darstellungsprinzipien des Spielfilms gedacht werden konnten. Das industriell-nar-rative Kino entwickelte sein Formen-Repertoire in Anlehnung an die menschliche Objektwahrnehmung. Gewählt wurden jene Formen, die imstande sind, den menschlichen Blick zu simulieren. Marc Adrian, Kurt Kren und Peter Ku-belka wollten den menschlichen Blick nicht nachbilden, sondern den Betrachter dazu verleiten, sich über das Medium Film neue Sehens- und Erfahrungsweisen anzueignen. Für außerfilmische Inhalte interessierten sie sich dabei weniger.
In den späten sechziger Jahren trat, bedingt durch den politischen Aufbruch der Studentenbewegung, ein gesellschaftskritisches Moment hinzu. Als Schlagwort sei hier „Expanded Cinema" genannt. Das Zerschlagen von gesellschaftlichen Ordnungssystemen wurde gewissermaßen im Kinosaal erprobt. Valie Export, Hans Scheugl, Ernst Schmidt jun. und Peter Weibel verstanden es, die zurückbleibenden kinematografischen Trümmer derart zu arrangieren, daß wesentliche Funktionsweisen der Kinoapparatur sichtbar wurden.
Da die radikalen Arbeiten der späten sechziger Jahre keine sinnvollen Anknüpfungspunkte mehr offen ließen, begannen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Filmemacher/innen der dritten Generation ihre Arbeiten. Dietmar Brehm, Liesl Ponger und Peter Tscherkassky zeigten sich traditionsbewußt: Das formale Erbe der fünfziger und sechziger Jahre wurde von ihnen mit neuen Inhalten konfrontiert und zu einer individuellen kinematografischen Ausdrucksweise verarbeitet.'
Bei den Werken von Dietmar Brehm handelt es sich zumeist um neu abgefilmte Filme. Brehm benutzt seine Reproduktionstechnik, um die Bildfolgen zeitlich zu dehnen und dem gestaltbaren Lichtflackern auszusetzen, das sich beim Abfilmen einstellt. Parallel dazu ermöglicht sie ihm relevante inhaltliche Strategien: Spielfilmeinstellungen werden aus dem narrativen Kontext gerissen, ihre Details hervorgehoben und akzentuiert, das vorgefundene Material wird schließlich mit eigenen Bildern verflochten. Die thematischen Zentren von Brehms mannigfaltigen Arbeiten sind Gewalt und Sexualität. „The murder mystery" (1987/88), eines seiner letzten Werke, zeigt, wie erschreckend und faszinierend es sein kann, zwischen den aggressivbedrohlichen Inhalten und ihrer ebenso aggressiv-bedrohlichen Darstellung hin und hergerissen zu werden. Auch wenn das Geschehen auf der Leinwand oft so unerträglich wird, daß man versucht ist wegzuschauen - der Wucht des pulsierenden Lichtes kann man dennoch nicht entkommen.
Auch Liesl Ponger arbeitet strukturell, aber mit anderen Ergebnissen. Ihre Filme sind Reisefilme in einem doppelten Sinn. Das Bildmaterial wurde tatsächlich auf zahlreichen Reisen durch fremde Länder aufgenommen. Seine Montage verweist aber eher auf eine Reise durch die Erinnerung. Der Weltreisende bewegt sich von einem Punkt zum nächsten, so wie der Zug in Pongers „Train of Recollection" (1988). Die Reise durch die Erinnerung kennt keine lineare Fortbewegung, im Netzwerk der Gedächtnisspuren wandelt man auf mehreren Pfaden gleichzeitig. Pongers „kreuz und quer" durch den Film weisende Montagetechnik erzählt von dieser anderen Art des Reisens.
Von der Lust am Sehen und dem Wissen um diese Lust und ihre Bedingungen handelt Peter Tscher-kasskys „Tabula Rasa" (1987). Dieser Film zeigt auf höchst sinnliche
Art, daß die Leinwand zwischen den Polen „Fenster", „Rahmen" oder „Spiegel" erlebt (und gedacht) werden sollte. Zunächst der Spiegel, die imaginäre Beziehung zum Bild mit all ihren voyeuristischen Möglichkeiten: In klar erkennbaren Bildern bewegt sich eine spärlich bekleidete Frau auf der Leinwand. Dann wird die Darstellung abstrakter, die Frau ist nur mehr in Umrissen erkennbar, das zeichenhafte Moment der Bilder beginnt zu dominieren. Gleichzeitig werden sie grobkörniger, ihre Farbpartikel werden sichtbar, die Leinwand ist jetzt nicht mehr das Fenster, das den Blick auf die Welt freigibt, sondern (bestenfalls) der Rahmen eines (pointillistischen) Bilds. „Tabula Rasa" nimmt sich 18 Minuten Zeit, um den Wunsch zu sehen in einen Wunsch zu wissen zu transformieren, dann endet er im völligen Weiß des Projektionsstrahls.
Mara Mattuschka bringt meist das ganze Spektrum ihrer Begabung zum Einsatz: Malerei, Performance und Sprachkunst werden auf Schwarzweißfilm zu einem multimedialen Spektakel collagiert. In tableauartigen Einstellungen, die manchmal an die frühen Tage der Filmgeschichte erinnern, agiert sie unter dem Pseudonym „Mimi Minus" als ihre eigene Hauptdarstellerin. Diese Selbstbespiegelung vollzieht die inhaltliche Umkehr des klassischen Hollywood Films, wo der weibliche Star Objekt für den Blick und das Handeln des männlichen Helden ist. Mattuschka sagt, daß sie durch das Filmen ihre Sprache wiedergewonnen hat. Mit Filmen wie „Loading Ludwig" (1989) hilft sie, den (film-) historisch verstellten Blick auf die originären Möglichkeiten des Weiblichen wieder freizumachen.
In meinem jüngsten Film „piece touchee" (1989) geht es um eine ReLektüre der Inhalte und Formen des klassischen Hollywood Kinos. 18 Sekunden aus dem billig produzierten US-Krimi „Immer jagte er Blondinen" der fünfziger Jahre werden Bild für Bild zerlegt und zeitlich neu geordnet.
Der Autor, 1959 in Wien geboren, studierte Psychologie und Kunstgeschichte und lebt seit 1987 als freischaffender Filmemacher.
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