7038361-1990_06_11.jpg
Digital In Arbeit

Rätsel zu entschlüsseln

Werbung
Werbung
Werbung

Der Philosoph Roland Barthes hat das zeitliche Voranschreiten einer Spielfilm-Handlung als Entfaltung eines Rätsels beschrieben, das frün in die Erzählung eingeschrieben wird und auf dessen Lösung wir begierig harren. Wie versponnen die Fäden im Labyrinth der Erzählung auch sein mögen, nach neunzig Minuten wird unsere Geduld be­lohnt: Die Wahrheit stellt sich her­aus, die ins Wanken gekommene Ordnung wieder ein.

Die Reise entlang der Höhen, Tie­fen und (manchmal) auch Untiefen der Story fällt dem Zuseher nicht schwer. Dafür sorgt der standardi­sierte Formenkanon des industri-ell-narrativen Kinos. Die Bildfol­gen werden quasi automatisch dechiffriert, mit dem einfachen und unbekümmerten Blick, der den Be­trachter von seinen ersten Kinoer­lebnissen an durch unzählige Spiel­filme geleitet und des jeweiligen Rätsels Lösung nähergebracht hat.

Wer einmal einen Experimental­film gesehen hat, dem mag der Eindruck in den Sinn gekommen sein, daß hier das Rätsel nicht en­den will - falls er nicht zuvor schon irritiert das Kino verlassen hat. Dem Zuseher wird vom experimentellen Film nicht nur ein Blick auf das andere, weniger Bekannte, sondern schlichtweg ein anderer Blick ab­verlangt. Die Bedeutung der Bild­folgen offenbart sich nicht automa­tisch, sie will erst interpretativ er­schlossen werden - in Auseinander­setzung mit dem individuellen ki­nematografischen Sprachgebrauch eines Filmemachers.

Ende der fünfziger Jahre entdeck­te eine erste Generation österrei­chischer Künstler das Medium Film. Das Material Film sollte auf Ge­staltungsmöglichkeiten hin unter­sucht werden, die jenseits der histo­risch dominanten Darstellungsprin­zipien des Spielfilms gedacht wer­den konnten. Das industriell-nar-rative Kino entwickelte sein For­men-Repertoire in Anlehnung an die menschliche Objektwahrneh­mung. Gewählt wurden jene For­men, die imstande sind, den mensch­lichen Blick zu simulieren. Marc Adrian, Kurt Kren und Peter Ku-belka wollten den menschlichen Blick nicht nachbilden, sondern den Betrachter dazu verleiten, sich über das Medium Film neue Sehens- und Erfahrungsweisen anzueignen. Für außerfilmische Inhalte interessier­ten sie sich dabei weniger.

In den späten sechziger Jahren trat, bedingt durch den politischen Aufbruch der Studentenbewegung, ein gesellschaftskritisches Moment hinzu. Als Schlagwort sei hier „Expanded Cinema" genannt. Das Zerschlagen von gesellschaftlichen Ordnungssystemen wurde gewisser­maßen im Kinosaal erprobt. Valie Export, Hans Scheugl, Ernst Schmidt jun. und Peter Weibel ver­standen es, die zurückbleibenden kinematografischen Trümmer der­art zu arrangieren, daß wesentliche Funktionsweisen der Kinoappara­tur sichtbar wurden.

Da die radikalen Arbeiten der späten sechziger Jahre keine sinn­vollen Anknüpfungspunkte mehr offen ließen, begannen in der zwei­ten Hälfte der siebziger Jahre die Filmemacher/innen der dritten Generation ihre Arbeiten. Dietmar Brehm, Liesl Ponger und Peter Tscherkassky zeigten sich tradi­tionsbewußt: Das formale Erbe der fünfziger und sechziger Jahre wur­de von ihnen mit neuen Inhalten konfrontiert und zu einer indivi­duellen kinematografischen Aus­drucksweise verarbeitet.'

Bei den Werken von Dietmar Brehm handelt es sich zumeist um neu abgefilmte Filme. Brehm be­nutzt seine Reproduktionstechnik, um die Bildfolgen zeitlich zu deh­nen und dem gestaltbaren Licht­flackern auszusetzen, das sich beim Abfilmen einstellt. Parallel dazu ermöglicht sie ihm relevante inhalt­liche Strategien: Spielfilmeinstel­lungen werden aus dem narrativen Kontext gerissen, ihre Details her­vorgehoben und akzentuiert, das vorgefundene Material wird schließ­lich mit eigenen Bildern verfloch­ten. Die thematischen Zentren von Brehms mannigfaltigen Arbeiten sind Gewalt und Sexualität. „The murder mystery" (1987/88), eines seiner letzten Werke, zeigt, wie erschreckend und faszinierend es sein kann, zwischen den aggressiv­bedrohlichen Inhalten und ihrer ebenso aggressiv-bedrohlichen Darstellung hin und hergerissen zu werden. Auch wenn das Geschehen auf der Leinwand oft so unerträg­lich wird, daß man versucht ist wegzuschauen - der Wucht des pulsierenden Lichtes kann man dennoch nicht entkommen.

Auch Liesl Ponger arbeitet struk­turell, aber mit anderen Ergebnis­sen. Ihre Filme sind Reisefilme in einem doppelten Sinn. Das Bildma­terial wurde tatsächlich auf zahl­reichen Reisen durch fremde Län­der aufgenommen. Seine Montage verweist aber eher auf eine Reise durch die Erinnerung. Der Weltrei­sende bewegt sich von einem Punkt zum nächsten, so wie der Zug in Pongers „Train of Recollection" (1988). Die Reise durch die Erinne­rung kennt keine lineare Fortbewe­gung, im Netzwerk der Gedächtnis­spuren wandelt man auf mehreren Pfaden gleichzeitig. Pongers „kreuz und quer" durch den Film weisende Montagetechnik erzählt von dieser anderen Art des Reisens.

Von der Lust am Sehen und dem Wissen um diese Lust und ihre Bedingungen handelt Peter Tscher-kasskys „Tabula Rasa" (1987). Die­ser Film zeigt auf höchst sinnliche

Art, daß die Leinwand zwischen den Polen „Fenster", „Rahmen" oder „Spiegel" erlebt (und gedacht) werden sollte. Zunächst der Spie­gel, die imaginäre Beziehung zum Bild mit all ihren voyeuristischen Möglichkeiten: In klar erkennba­ren Bildern bewegt sich eine spär­lich bekleidete Frau auf der Lein­wand. Dann wird die Darstellung abstrakter, die Frau ist nur mehr in Umrissen erkennbar, das zeichen­hafte Moment der Bilder beginnt zu dominieren. Gleichzeitig werden sie grobkörniger, ihre Farbpartikel werden sichtbar, die Leinwand ist jetzt nicht mehr das Fenster, das den Blick auf die Welt freigibt, sondern (bestenfalls) der Rahmen eines (pointillistischen) Bilds. „Ta­bula Rasa" nimmt sich 18 Minuten Zeit, um den Wunsch zu sehen in einen Wunsch zu wissen zu trans­formieren, dann endet er im völ­ligen Weiß des Projektionsstrahls.

Mara Mattuschka bringt meist das ganze Spektrum ihrer Begabung zum Einsatz: Malerei, Performance und Sprachkunst werden auf Schwarzweißfilm zu einem multi­medialen Spektakel collagiert. In tableauartigen Einstellungen, die manchmal an die frühen Tage der Filmgeschichte erinnern, agiert sie unter dem Pseudonym „Mimi Mi­nus" als ihre eigene Hauptdarstel­lerin. Diese Selbstbespiegelung vollzieht die inhaltliche Umkehr des klassischen Hollywood Films, wo der weibliche Star Objekt für den Blick und das Handeln des männli­chen Helden ist. Mattuschka sagt, daß sie durch das Filmen ihre Spra­che wiedergewonnen hat. Mit Fil­men wie „Loading Ludwig" (1989) hilft sie, den (film-) historisch ver­stellten Blick auf die originären Möglichkeiten des Weiblichen wie­der freizumachen.

In meinem jüngsten Film „piece touchee" (1989) geht es um eine Re­Lektüre der Inhalte und Formen des klassischen Hollywood Kinos. 18 Sekunden aus dem billig produ­zierten US-Krimi „Immer jagte er Blondinen" der fünfziger Jahre werden Bild für Bild zerlegt und zeitlich neu geordnet.

Der Autor, 1959 in Wien geboren, studierte Psychologie und Kunstgeschichte und lebt seit 1987 als freischaffender Filmemacher.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung