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Schönberg: ein Lehrstück

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Es ist möglich, daß Filmfachleute an dem Komponistenporträt, das der ORF zu Arnold Schönbergs 100. Geburtstag in FS 1 ausstrahlte, dies oder jenes auszusetzen hatten. Für Zuseher aller Ränge aber war diese Dokumentation — das nachträglich überprüfte Verhalten von Menschen, die keinerlei innere Beziehung zu Schönberg besaßen, bewies es — faszinierend wie selten eine und es dürfte in diesem Zusammenhang durchaus kein Zufall sein, daß der Film nach einem Treatment von Robert Schollum gedreht wurde. Schollums Fähigkeit, die Zusammenhänge und Hintergründe musikalischen Geschehens aufzuhellen und auch dem Laien verständlich zu machen, stammt nicht erst von gestern. Von ihm geführt, begriff man wieder einmal vieles.

Begriff, wie wenig Schönberg eigentlich ein Revolutionär war und wie sehr er, auf den Schultern der vorangegangenen Meister stehend, mit Konsequenz, Mut und Wahrheitsliebe jene Schritte tat, die andere zu tun sich noch scheuten. Begriff beim Anblick der zahlreichen eingeblendeten Fotos und beim Anhören der kostbaren Tonstreifen mit Schönbergs Stimme, welche Kraft zu Lebzeiten von ihm, dem Dirigenten, dem Lehrer, dem Menschen ausgegangen sein mag. Begriff die Vorstellungswelt, aus der er kam bei dem Versuch, früh- exp ressionistische Stimmungen durch unwirklich schwankende Birkenwälder, Frauen in langen, schleifenden Gewändern, Wind .aus der Ferne und Salzkrusten am Meeresrand darzustellen.

Begriff am Rande aber auch, was bei all dem unausgesprochen blieb: den geistesgeschichtlichen Zusammenhang, in den die Entdeckung der absoluten Gleichheit aller zwölf Töne zu stellen ist. Denn nicht tcnders als rm pöilti-’ Sfhėn Auftakt dieses Jahrhunderts, ergab sich auch in der Musik, daß Gleichheit keineswegs Freiheit hervorbringt. Der Weg aus einer sich fast schon alles gestattenden, verschwimmenden und aufs äußerste gelockerten Tonalität führte durch die Gleichheit der Töne hinein in ein System strenger Zwänge, mit seinem Verbot der Wiederkehr des gleichen Tones in der Reihe, seinem Verbot des Dreiklangs, seinen Regeln von Umkehrung, Krebs und Umkehrung des Krebses. Gleichheit setzte, wie im Politischen, so auch in der Kunst, nur noch größere Genauigkeit voraus als vordem Ungleichheit und Rangordnung. Erst mit der musikalischen Atomzertrümmerung nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer: nach 1950, ergab sich das aleatorische Ende jeglicher Gestalt, und mit dem Ende jeglicher Gestalt ergab sich denn auch der Ausbruch einer für uns alle so bezeichnenden hektischen Langeweile.

Doch zurück zu Schönberg, den Wien nun, nach sechzig Jahren und seit dem großen Durchbruch mit „Moses und Aron” endlich zu hören imstande ist. Man hat versucht und versucht es immer wieder, ihn auch als bildenden Künstler, als Maler hochzuloben und übersah dabei merkwürdigerweise eine seiner entscheidendsten Leistungen: seine

Genialität in der Behandlung der Sprache. Wem, wie ihm, ist es seither gelungen, mit sechs, ja mit drei Worten Gedanken in die Welt zu schleudern, die Prophezeiungen sind und nicht nur aus Versen geronnene Zitate —? Was er zu allerletzt zu sagen hatte, dieses: „Trotzdem bete ich”, ist eine Verkündigung und gilt nicht nur für Katholiken, die nach dem Zweiten Vatikanum immer noch fähig sind, an Gott zu glauben, sie gilt ganz allgemein für diese unsere heutige Welt, die Welt, in der wir leben.

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