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Schonungslos demaskiert

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Früh fand der junge Maxim Gorki, der Lastträger, Geschirrwäscher, Bäckergeselle, Chorist zu revolutionären Kreisen. Zu einer Zeit, da er als Schriftsteller bereits bekannt war, wurde er vorübergehend verhaftet, dann unter Hausarrest gestellt. War er ein überzeugter Bolschewik?

Jegliche Gewaltanwendung zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit lehnte er scharf ab, er mißbilligte entschieden den Terror. Durch seine zwiespältige Freundschaft mit Lenin konnte er sich für bourgeoise und adelige Klassenfeinde einsetzen, selbst einen Großfürsten rettete er vor der Erschießung. Und doch schrieb er nach einigem Drängen über die Solowetzki-Inseln im Weißen Meer, die als Ausrottungslager galten, wie sehr sich „die Häftlinge dort eines herrlichen Lebens samt einer herrlichen Erziehung erfreuen.“

Wie ordnet sich das erste Stück, das Maxim Gorki 1902 als 34jähriger schrieb, in die damaligen Sozialrevolutionären Bestrebungen ein? Es sind die „Kleinbürger“ — derzeit aufgeführt im Akademietheater —, bei deren Premiere die Theaterdiener durch Polizisten ersetzt waren. Es gibt da erstmals auf der russischen Bühne einen Vertreter des Proletariats, der junge Lokomotivführer Nil, Pflegesohn des wohlhabenden Kleinbürgers Bessemjonow. Er ist der „arbeitende, vorwärtsstrebende“ Mensch der Zukunft, ein lebensfreudiger Kerl, der im sozialen Bereich feststellt, Herr einer Sache sei, wer sie erzeugt. Aber nichts von Gewalt, nichts von Massenmorden, nichts vom Ausrotten ganzer Bevölkerungsschichten.

Kleinbürger haben keinen Anteil an den Produktionsmitteln, es eignet ihnen aber das Bewußtsein der herrschenden Ordnung, sie sind loyal. Gorki zeigt, gemäß Georg Lukäcs, in der Gestalt des Nil, „wie isoliert vom Leben der großen Massen die ersten Lebenszeichen der Revolution gewesen sind“, er zeigt bei Bessemjonow und den Seinen die „Machte des altrussischen Sumpfes“. Diese Anhänger der alten Ordnung reden und reden, es wird gezankt, sie machen Krach, es gibt Nihilisten, Säufer. Jede dieser Gestalten setzt sich in ihrer Art mit dem Leben auseinander, jede ist von einem Dichter gesehen, so manche von ihnen vergißt man wohl nicht so leicht.

Diese „Szenen im Hause Bessemjonow“ wurden von Gorki als „dramatische Skizze“ bezeichnet, sie ergeben kein Drama. Es geschieht so gut wie nichts. Die in Melancholien verwelkende Volksschullehrerin Tatjana, Tochter des Hauses, sieht, daß Nil nicht sie, sondern eine andere heiraten wird und begeht einen Selbstmordversuch, läßt sich aber raschest retten. Und der frische, gesunde Nil? Versucht er, seine Anschauungen in die Tat umzusetzen? Er beabsichtigt zu heiraten. -Schon Hermann Bahr hatte nach der Wiener Erstaufführung das dramatische Unvermögen Gorkis festgestellt. Aber gerade dieses „Unvermögen“ befähigte ihn, die damalige Zeitsituation meisterlich zu zeichnen. Was bietet dies aber uns? Das typisch Kleinbürgerliche ist zeitlos, gilt auch für heute.

Erstaunliches ereignet sich. Unter den jüngeren Regisseuren gibt es einen, für den ein Stück nicht Material ist, mit dem man nach Belieben verfährt, es ist Dieter Dorn, der sich gegen jene Spielleiter wendet, die nur sich und ihre Einfälle inszenieren. Für Dorn bleibt das wichtigste der Autor. Die von ihm mit Heiner Gimmler erstellte Einrichtung der Übersetzung von Andrea . deinen wird dem Stück voll gerecht. Pausen den Schweigens vermitteln das Gefühl der Langeweile, von dem die Gestalten immer wieder sprechen. Damit sich dieses Gefühl nicht auch auf uns erstreckt, ist eine vorzügliche Wiedergabe erforderlich. Dieter Dorn bietet sie. Heinz Moog ist ein weißbärtiger Bessemjonow mit vollem Anspruch auf Familienbeherrschung. Beinahe ängstlich duckt sich ihm gegenüber Judith Holzmeister als seine Frau. Das düstere Moll von Tatjanas Weltschmerz verdeckt Elisabeth Orth mitunter in Dur. Dem versoffenen Kirchensänger Tjetjerew gibt Norbert Kappen Persönlichkeit. Dieter Witting ist ein frischer, unbekümmerter Nil, Josefin Platt eine belanglos nette Pol ja, seine Erwählte. Das Wohnzimmer des Bessemjonows, das Hans Kleber entwarf, wirkt kleinbürgerlich, aber kaum altrussisch.

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