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Signale aus dem Eis

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Manche sogenannte Politiker und sogenannte Ästhetiker wollen die Wirklichkeit partout nicht wahrhaben, die Wirklichkeit unserer europäischen Welt, hier und heute: die Tatsache nämlich, daß wir langsam, aber unaufhaltsam bei lebendigem Leibe vereisen.

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Manche sogenannte Politiker und sogenannte Ästhetiker wollen die Wirklichkeit partout nicht wahrhaben, die Wirklichkeit unserer europäischen Welt, hier und heute: die Tatsache nämlich, daß wir langsam, aber unaufhaltsam bei lebendigem Leibe vereisen.

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Die Unfähigkeit jener sogenannten Politiker und Ästhetiker, diesen leicht diagnostizierbaren und an allen Ecken und Enden erkennbaren Prozeß zu erkennen, hat wohl zwei Gründe. Erstens widerspricht die Vereisung der Europäer den modischen Heilslehren, als deren Verkünder sich jene P. & Ä. gerne sehen würden, und zweitens sind jene P. & Ä. bereits selbst dermaßen vereist, daß ihnen die allmähliche Vereisung der übrigen Wählerund des Leservolkes gar nicht auffällt.

Es ist, wie so oft, die Kunst, die das Wesen der Epoche und auch ihre Dynamik, das heißt, die Richtung ihrer inneren Bewegung, darzustellen vermag. Sie ist eo ipso fortschrittlicher als all die P. & Ä. Sie zeigt, was geschieht, zeigt mitunter durch Schweigen, durch die Leere eines sprachlichen oder gemalten Raumes, daß im Augenblick nichts geschieht und daß folglich etwas geschehen müßte. In solchen Fällen sagen jene P. & Ä., die Kunst verabsäume wieder einmal, das Bewußtsein zu formen. Und dabei meldet sie gerade die Veränderungen dieses Bewußtseins, gibt sie bekannt, kodifiziert sie und trägt durch das Erkennen des Verborgenen dazu bei, das wirkliche Bewußtsein zu formen. Das wirkliche.

Die neuen Erzählungen von Herbert Eisenreich schildern Augenblicke der Vereisung, Phasen eines Prozesses, dessen Substanz man mit dem Ausdruck „kollektive Morbidität“ bezeichnen könnte, oder noch genauer: „Verlust der Vitalität durch Reduktion des Menschen auf seine materielle Komponente“. Eisenreich schreibt freüich Geschichten und keine Abhandlungen oder Analysen. Aber sein neuer Novellenband mit dem Titel „Die blaue Distel der Romantik“ ergibt ein menschliches Panorama, das den Leser in die Lage versetzt, seine Schlüsse zu ziehen.

Das im Vereisen begriffene Individuum wehrt sich natürlich instinktiv gegen den Tod: gegen diesen Tod an mangelndem Gefühl. Aber die Emotionen sind schwach, sind zuweilen auch gekünstelt, werden nicht erwidert, wenden sich ins Groteske. Auch die elegischen Stücke der Sammlung sind nicht frei von einer gewissen Tragikomik. Selbst die „Trilogie vom reiferen Leben“, dieser Versuch, eine Gruppe von nicht mehr ganz jungen Menschen in ihren individuellen Einsamkeiten darzustellen, in ihren Versuchen auch, mit Hilfe amouröser Abenteuer die Einsamkeit abzustreifen, ja, selbst diese Trilogie wirkt unerbittlich. Ihre Härte mag manche Leser irritieren; doch gerade diese Neigung zur Dissonanz, zur Strenge und zur Härte entspricht der eigentlichen epischen Aufgabe. Sie ist zeitbezogen. Eisenreichs Realismus steht im Zeichen eines sehr einfachen und sehr elementaren ethischen Auftrages. Er lautet: „Du sollst die Wahrheit sagen!“ In diesem Sinne gehören Eisenreichs Erzählungen genauso zur politischen Literatur wie die Novellen von Maupassant oder von Tschechow.

Es gibt in diesem Band einige Beispiele meisterhafter Verkürzung und Verdichtung, wie etwa die Titelgeschichte selbst und neben ihr etwa „Ein Opfer des Nonkonformismus“; noch wichtiger aber sind die in beiden Bedeutungen des Wortes großen Novellen: „Triumph und Pleite eines Genies“, „Tapetenwechsel“ und „Sieg und Platz“. Eisenreich scheut sich nicht, die Texte verständlicher zu machen durch Schilderung seiner Methode der epischen Wahrheitsfindung. Vor dieser subjektiven’ Notiz „Zwischen den Zeilen“ steht eine Kürzestgeschichte, seinerzeit als Geburtstagsgeschenk für Heimito von Dode rer verfaßt: „Anekdote aus höflicher Zeit“.

Diese Kürzestgeschichte nun führt zu einem anderen, zu einem jüngeren Herbert Eisenreich zurück, der die Vereisung der Europäer noch nicht hatte erkennen können, da er mit sich selbst, mit der sprachlichen Selbstfindung und mit der Bewältigung und Überwindung der literarischen- Erbschaft beschäftigt war, und da sich der rasante Niedergang damals noch nicht offen gezeigt hatte. Damals, zwischen den Jahren 1946 und 1952 schrieb Eisenreich auch Gedichte, „tausend vielleicht oder mehr“. Neununddreißig Stück aus dieser überreichen Produktion sind nun unter dem Titel „Verlorene Funde“ ebenfalls erschienen.

Eisenreichs Lyrik hängt mit seiner Prosa an einem - und zwar am wesentlichsten - Punkt eng zusammen. Auch die Gedichte versuchen, zwischen Weltgeschehen und Sprache den kürzesten Weg zu finden, eine Verbindung zudem, die sich im konkreten, im sinnlich erfaßbaren Schicksal ereignet. Warum aber muß die Darstellung sinnlich nachvollziehbar sein? Aus Gründen der literarischen Redlichkeit! Denn nur das menschlich Nachvollziehbare ist dem Menschen auch überprüfbar.

So fügt sich also der Gedichtband sinnvoll an das erzählerische Werk. Es ist wesentlich für Eisenreichs Ent wicklungsgeschichte, zugleich auch charakteristisch für das lyrisch durchtränkte und vertonte Lebensgefühl einer ganzen Generation. Besonders kräftig strahlen die Gedichte, in denen epische Aufgaben erfüllt werden: „Torso eines Knaben“ stellt ebenso eine Figur dar wie das Sonett „Zu einem Selbstportrait Oskar Kokoschkas aus dem Jahre 1912“, wie ein anderes Sonett „Zu George Grosz“ oder wie das Gedicht „Von den drei Leiden des Menschen“, einer Zeitungsnotiz über den Admiral Canaris zugeordnet. Eine Rückkehr zur Welt der Erzählungen vollzieht dann der erregendste und wahrscheinlich wichtigste lyrische Text des Bandes: „Exercises 1951 für die schlecht Geliebte“.

Da ist der Zorn, ‘der seither so sehr angeschwollene, dieser berechtigte Zorn nur in einer Vorform spürbar, als Spiel mit der Verzweiflung. Im Vierteljahrhundert seither ist die Vorform zum Hauptmotiv geworden. Wenn es noch einen zukünftigen Beobachter geben wird, von der Frage gereizt, ob denn die Europäer ihre allmähliche Vereisung nicht erkannt haben, so wird er eine Antwort finden bei Eisenreich. Sie haben sie erkannt, aber es hat ihnen nichts genützt.

DIE BLAUE DISTEL DER ROMAN- TIK. Erzählungen. Von Herbert Eisenreich. 160 Seiten, Verlag Styria, Graz, öS 198,-.

VERLORENE FUNDE. Gedichte. Von Herbert Eisenreich. 84 Seiten, Verlag Styria, Graz, öS 118,-.

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