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Österreichische Erzähler

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Böse schöne Welt. Erzählungen von Herbert E i s e n r e i c h. Verlag Scherz & Goverts, Stuttgart. 172 Seiten. Preis 9.80 DM.

Mit elf Erzählungen und einem kleinen Essay, enthaltend die „Vorläufigen Erfahrungen eines Autors“, versucht der heute 32jährige Herbert Eisenreich Neuland zu gewinnen für die kleine Prosa in unserer Zeit. Er möchte in seinem, den Band beschließenden Essay, „Eine Geschichte erzählt sich selbst“, die „Geschichte“ deutlich von der „Erzählung“ unterschieden wissen; so daß die Bezeichnung „Erzählungen“ auf der Titelseite eigentlich „Geschichten“ zu lauten hätte.

Eisenreich zwingt uns, über neue Möglichkeiten der kleinen Prosa nachzudenken — durch das, was er als Dichter versuchte, und das, was er als Kritiker schrieb.

Seine Erzählungen — wenn wir es hier bei dieser Bezeichnung belassen dürfen — sind Augenblicke, die aus dem Dunkel auftauchen, um wieder darin unterzutauchen, „Augenblicke der Liebe“ nennt Eisenreich sie selbst, Augenblicke, über denen der Geschichtenerzähler den Abstand zu seinem Gegenstand und seinen Gestalten vergißt. Freilich dürfen wir den Ausdruck „Augenblick“ nicht ganz wörtlich nehmen: ein Nachmittag, ein Abend, die Stunde vor der Morgendämmerung, kleine, in sich geschlossene Zeiteinheiten — das ist das, was Eisenreich unter „Augenblick/'- vermehr Dieser Augenblick.,bjejbt fast immer anonym. Nur von wenigen der Personen, von denen wir in diesem Buch hören, erfahren wir den Namen, weder wird der Augenblick genau datiert, noch der Ort genannt. Doch lassen der eine oder andere Hinweis auf eine bestimmte Jahreszeit, eine bestimmte Stadt schließen.

Eisenreich erkennt die Geschichte als „isolierte Manifestation des unendlichen Erzählens“, als „Bruchstück einer großen epischen Kohfession“. Wir könnten uns alle Augenblicke, die er in seinen Geschichten ausbreitet, als Teile des dichten Gewebes eines Romans vorstellen, sind sie doch weniger, wie die Erzählung, konsequente Verfolgung eines einzigen Fadens — der sprichwörtlich der rote ist —, sondern Ausschnitt eines reichen Musters mit Fäden, die in alle Richtungen streben.

Ein Glanzstück deutscher Prosa ist die Erzählung „Tiere von ganz natürlicher Grausamkeit“, die den

Band eröffnet — gleichrangig dem, was Boll urid Bender, Goes und Gaiser erreicht haben. Sie strebt einem einzigen Augenblick zu, der Höhepunkt ist und zugleich, klar wie ein Kristall, keimkräftig wie ein Weizenkorn, die ganze Erzählung in nuce enthält. Eines ist deutlich zu spüren: Eisenreichs Wissen vom Menschen kommt aus seiner Liebe zu ihm. Darum ist es so groß.

Deutlich ist auch Eisenreichs Herkommen von der Hohen Schule österreichischer Prosa, wie sie von den Lebenden Albert Paris Gütersloh (den Eisenreich zitiert: „Was ein Roman ist, bestimmt jeweils der, der ihn schreibt“) und Heimito von Doderer verkörpern. Die häufige Verwendung von Austriazismen gibt seinem Stil mundartliche Wärme. Auf seinem Weg als Prosaist, der mit „Einladung, deutlich zu leben“ begann und mit „ .. . auch in ihrer Sünde“ weiterführte, ist Eisenreich ein entscheidendes Stück weitergegangen.

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Zu keiner Stunde. Dialoge von Ilse A i c h i n g e r. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 100 Seiten.

Ilse Aichinger ist einem Irrtum zum Opfer gefallen. Sie wollte „reine“ Literatur machen, aber es ist „leere“ Literatur daraus geworden. Sie hat bewußt an ihren Arbeiten gefeilt, sie hat sich jede Zeile wohl überlegt. Aber aus Feilen wurde Feilheit. Sie kennt den Markt zu gut. Das ist ihr Verhängnis geworden. Was, .entstand, istMetbcsjk des Nachtstudios“ (Gerhard Fritsch), ' Wirtschafts-Wunderdichtung, artifizielle Spielerei ohne Substanz.

Ilse Aichinger geht es um „reine“, „kühle“ Dichtung. Sie hat jedes Empfindungs- und Erlebnismoment aus ihren Arbeiten eliminiert. Aber aus diesem Absichern, aus diesem Abdichten gegen Gefühlsinhalte, gegen alles, was „Herz“ ist, entstand keine Dichtung, sondern nur eine Abdichtung. Die Welt trat nicht ins Wort, das Wort blieb leer. Er wurde abgedichtet, ehe der Sinn eintrat. Zu früh (der Markt rief). Nur das bis zum Bersten mit Sinn geladene Wort (Ezra Pound) verlangt notwendigerweise nach hermetischer Abdichtung. Hier haben wir gedichtete Hohlheit in der Hand — in Bonbonniereaufmachung.

Ilse Aichinger hat auf hundert Seiten erreicht, was ein Gomringer mit drei Zeilen zustandebringt: nichts zu sagen.

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