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Ist Filmgeschichte Weltgeschichte?

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Wenn man die Gelder und Menschen zählte, die der Film in Bewegung setzt, wenn heute Psychologie und Pädagogik, aber auch Politik und Geschichte tastend die tieferen Wirkungsschichten des Films abzuheben versuchen und dabei die unmeßbaren Einflüsse des Films auf den Einzelmenschen, auf Klassen und Rassen, Nationen und Weltreiche, nicht zuletzt: auf Krieg und Frieden, meßbar machen wollen, dann muß man die im Titel gestellte Frage ohne Zögern bejahen. Der Wiener Theoretiker und Praktiker Rudolf O e r t e 1 geht noch weiter. Er hat die tiefliegenden Kabel dieser weltweiten „neuen Sprache“ schon vor 18 Jahren in einem Büchlein, „Filmspiegel“, aufgespürt, das er nunmehr mit klugem Fleiß zu einem dicken Buch ausgeweitet hat: „M acht und Magie des Films", Weltgeschichte einer Massensuggestion. Europa-Verlag A. G„ Wien 1959. 592 Seiten mit 3 50 Abbildungen. S 144.—. Als Oesterreicher danken wir dem Verfasser vor allem für die erste breitere Berücksichtigung der heimischen Filmgeschichte in einem der vielen neueren Kompendien (S. 475—509), zu der das in Kürze erscheinende -österreichische „Filmlexikon“ der Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmwirtschaft eine wichtige Ergänzung bilden wird. Wir danken ihm aber noch mehr: einen großen Reichtum an neuen Materialien (zonale Querschnitte und personale Längsschnitte), originelle Gedanken und Andeutungen und, last not least, ein Titelregister mit weit über 2000 im Text behandelten Filmen, ein Personenregister, ein Literaturverzeichnis und ein gescheites Vor- und Nachwort, das bei aller Liebe zur Sache auch nicht herbe Kritik unterdrückt, in dem es mit seltenem Weit- und Tiefblick den Film messerscharf „ein Kuriosenkabinett, einen Narrenturm, ein Symbol des 20. Jahrhunderts" nennt. Vielleicht steht das auch einmal über der Weltgeschichte dieses Säkulums geschrieben?

Feuilletons und Leitartikel, hinter denen doch wieder die Dämonen und Lichtgestalten der Geschichte der Welt und der Menschen aufstehen, hat Curt Riess, der Journalist unter den Filmhistorikern, schon in seinem Stummfilmband „Das gab’s nur einmal“ geschrieben. Dieses ist der zweite Streich: „Das gib t’s nur einmal,“ Das Buch des deutschen Films nach 1945. Henri-Nannen-Verlag, Hamburg 1958. 394 Seiten mit 168 Abbildungen. S 134.70. Curt Rieß weiß viel von den politischen und persönlichen Intimitäten des deutschen Films und von den Trauerspielen und Satyrspielen der Nachkriegsjahre. Seine Feder ist so gewandt, daß er sie noch spannender und amüsanter zu erzählen weiß, als sie in Wirklichkeit gewesen sein mögen. Ganze Strecken weit gibt es Monologe und Dialoge. Und da und dort hat man das untrügliche Gefühl: so könnte „es“ sich tatsächlich abgespielt haben. Si non ė vero, ė ben trovato.

Ist der Neoverismo noch eine rein italienische Angelegenheit? Ist er nicht schon Gemeingut des Weltfilms geworden? Sind Züge von ihm nicht überall spürbar — und werden Züge davon nicht dauernde Bestandteile „des" Filmstiles bleiben? Hellsichtig verlegt der Schweizer Martin Schlappner („Von Rosselini zu Fellini." Das Menschenbild im italienischen Neorealismus. Origo-Verlag, Zürich 1958, 304 Seiten, S 120.10) die Grundsteinlegung des Neoverismo hinter das Ende des zweiten Weltkrieges, an dem er lediglich, in der ungeheuren Emotion des Niederbrucherlebnisses, explodierte. Die Zündung aber lag vorher: in der ästhetischen Protesthaltung der Kritiker zum Romantizismus und in der menschlich-politischen Resistance gegen den Faschismus. Schlappner geht bio- und monographisch vor, aber es ist kein Starbuch, sondern eine reife, gescheite, geistesgeschichtliche Analyse, deren reicher Inhalt gleich wie die makellose, ruhige Diktion das Buch für den Fachmann und Filmfreund zum Genuß, ja unentbehrlich macht.

Eigentümliche Welt- und Menschheitsgeschichte des Films treibt der Sorbonnedozent Edgar Morin in dem Buch „Der Mensch und das Kino“. Eine anthropologische Untersuchung. Von Kurt Leonhard übersetzte deutsche Ausgabe von „Le Cinema ou l'homme imaginaire“. Ernst-Klett-Ver- lag, Stuttgart 1958. 248 Seiten, DM 14.50. Würde der deutsche Uebersetzer nicht in so schrulligen Fachwortkaskaden baden, würde die zweifellos bedeutende Idee des Autors, im Kino ein neuerwachtes archaisches Lebensgefühl, eine Rücktendenz zum magischen Menschen zu erblicken, klarer werden. Die wissenschaftliche Bedeutung und Nachwirkung dieser erstmaligen „Anthropologie des Films“ ist unbestritten.

Max O p h ü 1 s, ein Wanderer zwischen Welten, Nationen und Rassen, Webkünstler goldmatt glänzender seidener (und halbseidener) Filmteppiche, ist im Vorjahr gestorben und hat eine Lücke im Film hinterlassen. Sein Testament ist ein weises, mit schmerzlichem Lächeln geschriebenes Erlebnisbuch: „Spiel im Dasein.“ Eine Rückblende. Mit einer Einführung von Friedrich Luft und einem Nachwort von Hilde Ophüls. 239 Seiten, 18 Abbildungen, DM 15.80. Wir lesen gerührt und entzückt aus diesem Leben, das sich mitten im unmenschlichsten Gejagtsein (ein Joseph-Schmidt-Schicksal) romantische Inseln schuf. Bei allen kommenden Schnitzler-Verfilmungen wird man bei den wienerischen Filmen dieses Saarbrückener jüdischen Großkaufmannsohnes (Oppenheimer!) in die Schule gehen müssen.

Der „F i 1 m s p i e g e 1 VI“, Handbuch der katholischen Filmkommission für Oesterreich (Wien I, Stephansplatz 3); 192 Seiten, S 27.—, ist der beste „Spiegel“ des heimischen Filmprogramms nach 1945, den wir besitzen. Erstmals faßt ein alphabetisches Titelregister alle dreieinhalbtausend zwischen 1947 und 1956 besprochenen und klassifizierten Filme des österreichischen Programms mit allen wichtigen Hinweisen zusammen, gefolgt von den Kurzkritiken 1957/5 8. Wertvolle Uebersichten über die katholischen Filmstellen in Oesterreich, Verleihfirmen emp-

fehlenswerte Filme, Filme für Pfarr- und Familienvorstellungen, abzulehnende Filme und anderes mit einem bündigen Literaturverzeichnis beschließen das gehaltvolle, hübsch ausgestattete und dabei überraschend billige Büchlein.

Wer noch tiefer in der Filmarbeit steckt, kann auf „den Nestor“ nicht verzichten: „Oesterrei- chis eher F i 1 m a 1 m a n a c h", 12. Jahrgang 1959, Herausgeber Harry Nestor, Wien IV, Kleine Neugasse 4, Telephon 57 18 633. Was hinter dem schmucken, biegsamen Plastikeinband an Anschriftenmaterial steckt, ist erstaunlich: Ministerien, Aemter, Behörden, Verbände, Uni-Austria, Filmfachpresse, Journalisten, Pressestellen, Produktion, Verleih, Filmschaffende, Rundfunk, Fernsehen, Darsteller und Darstellerinnen, alle österreichischen Kinos, Technik und Zubringerbranche. Das Ausland ist diesmal mit Belgien und Italien vertreten. Hier arbeitet ein Filmbesessener Jahr für Jahr ein enormes Pensum auf, das man nachahmen, aber in seiner Gründlichkeit und Genauigkeit nicht erreichen kann.

DIE ENGEN MAUERN. Roman von Humbert Fink. Verlag Henry Goverts, Stuttgart. 284 Seiten. Preis 14.80 DM.

Der erste Roman von Humbert Fink hat nichts von einem „Erstling“ an sich. Es ist ein großer Wurf, und er sitzt genau. Zweimal haben wir in der „Furche“ schon auf Humbert Fink hingewiesen: als er mit 17 Jahren seinen Gedichtband „Verse aus Aquafredda“ in einem Klagenfurter Verlag herausgab, und dann, als er es ein paar Jahre später in Wien wagte, eine unabhängige Kulturzeitschrift, „Die Oesterreichischen Blätter“, zu begründen. Nach drei Nummern schlief die Sache ein, aber Fink hatte gezeigt, wie eine solche Zeitschrift aussehen müßte.

Hatten diese beiden Unternehmungen, der Gedichtband und die Zeitschrift, nur ein verhältnismäßig geringes Echo, so erregte sein Roman bald Aufsehen. In Humbert Fink, so hieß es, sei Oesterreich der erste der „zornigen jungen Männer" erstanden, jenes neuen Typus, der seit John Osbornes Theaterstück „Blick zurück im Zorn" die Literatur zu beherrschen beginnt. Es ist ein skeptischer, aber kein unerfreulicher Typus, einer akademischen Schreibweise genau so abhold wie einer unfruchtbaren Avantgarde.

Was uns an Humbert Fink besonders wichtig erscheint, ist: er ist ein österreichischer Dichter; das heißt: er hat Welt, und er bleibt in dieser Welt, wenn er schreibt. Hier wird keine ortlose Symbolik exerziert, hier gibt es kein blasses Allerweltsland, das „überall und nirgends“ sein könnte, hier ist nichts von der Routine einer „Metaphysik des Nachtstudios“ zu finden, wie sie seit Ilse Aichinger so gängig, ja so häufig geworden ist... Hier ist die Welt noch die Welt und das Wort noch das Wort, und wenn Fink Villach sagt, meint er Villach, und das ist gut so: denn es ist gut, wenn wir in der Literatur endlich wieder einmal den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen spüren.

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