6831476-1974_41_12.jpg
Digital In Arbeit

Temporäre Störungen

19451960198020002020

Hier wird dem Leser ein hochinteressantes, ja spannendes Buch geboten, dessen Grundthese der Rezensent zwar nicht teilt, doch muß er gestehen, daß er aus diesen Seiten viel gelernt, viel „profitiert” hat. Wer sich über die Krise in der katholischen Kirche eine Meinung bilden will, darf an diesem Band nicht Vorbeigehen. Der Autor, Professor Oswald Köhler, der an der Freiburger Universität Weltgeschichte doziert, gibt uns hier ein sehr lebendiges Bild einer der vielen großen Wunden am Leib seiner Kirche, ein wahres Prachtgemälde des Modernismusstreites um die Jahrhundertwende, der eine sichtbare Narbe hinterlassen hat.

19451960198020002020

Hier wird dem Leser ein hochinteressantes, ja spannendes Buch geboten, dessen Grundthese der Rezensent zwar nicht teilt, doch muß er gestehen, daß er aus diesen Seiten viel gelernt, viel „profitiert” hat. Wer sich über die Krise in der katholischen Kirche eine Meinung bilden will, darf an diesem Band nicht Vorbeigehen. Der Autor, Professor Oswald Köhler, der an der Freiburger Universität Weltgeschichte doziert, gibt uns hier ein sehr lebendiges Bild einer der vielen großen Wunden am Leib seiner Kirche, ein wahres Prachtgemälde des Modernismusstreites um die Jahrhundertwende, der eine sichtbare Narbe hinterlassen hat.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Struktur dieses Buches ist eine einzigartige. Der Band besteht aus einem Vorwort und 16 Briefen und Betrachtungen, von denen zwei an lebende Personen gerichtet und gezeichnet, die übrigen aber fingiert und in die Vergangenheit zurückverlegt worden sind. Dupanloup, Ignaz v. Döllinger, Karl Josef von Hefele, Albert Ehrhard, Friedrich von Hügel (als Freund George Tyr- rells), Herman Schell, Albert Lagrange, Alfred Loisy, Paul Wilhelm von Keppler, Ludwig von Pastor, Pius X., Johannes Janssen, Franz Xaver Kraus und Ernesto Buonaiuti (der erst 1946 starb) werden da angesprochen oder zum Gegenstand einer Meditation gemacht. Nach jedem Brief oder Soliloquium folgt eine Art Scholion, Exzerpte aus den Schriften der einzelnen Persönlichkeiten, oder auch Bemerkungen über sie aus der Feder von Zeitgenossen, so daß der Leser, ohne Nachschlagwerke zu benützen, sich über die Dramatis Personae ein ungefähres Bild machen kann.

Die Bekämpfung des Modernismus bildet zweifellos kein Ruhmesblatt in der Geschichte der katholischen Kirche, denn die Schlacht wurde von Rom, vor allem van Pius X., mit großer Unerbittlichkeit geführt. Das Denunziantentum blühte in ganz Europa und viele Unschuldige, Denker und Forscher, die man heute zweifellos als Säulen des Glaubens betrachten würde, kamen dabei zum Handkuß. (So, zum Beispiel, der geistreiche und tief gläubige Herman Schell.) Vielleicht aber sind in einer großdimensionierten Weltkirche so unerquickliche Episoden wie der Modemismusstreit „historisch” ganz einfach nicht zu vermeiden. Schließlich ist die Kirche „Gottes Kraft in menschlicher Schwäche”; sie ist zwar eine „irdische Heimat”, aber auch ein Joch, für manche sogar ein wahres Kreuz, und, wie alle großen Dinge, eine Quelle von Freuden und Leiden. Die heilige Johanna mußte verbrannt werden, bevor sie heiliggesprochen wurde, der heilige Thomas wurde wüst befehdet, Newman lebte unter einer dunklen Wolke, bevor er zum Kardinal gemacht wurde, der heilige Johannes vom Kreuz und der heilige Ignatius erfreuten sich der unzarten Gastfreundschaft der heiligen Inquisition. Was aber hingegen den empfindsamen und aufmerksamen Leser in den Briefen, Meditationen und Zitaten dieses Bandes vielleicht schmerzlicher als alles andere berührt, ist der Gesamteindruck van Ehrgeiz und Humorlosigkeit dieser Größen der Vergangenheit, Schwächen, noch gewürzt durch das Odium Theologicum, die aber doch wieder schicksalhaft der Welt der Intellektuellen anhaften. Frei von solcher Kleinlichkeit und Leid- lichkeit war vielleicht nur der gute Baron Hügel, ein reicher Aristokrat ohne Karriere, den weder Lehrstühle noch Bischofsmitren oder Druckerlaubnisse interessierten. Ihm konnte niemand etwas „anhaben”.

Ob aber die gegenwärtige Krise in der Kirche — Krise nicht des braven Laienvolkes, sondern der Theologen, Hierarchen, Priester, Ordensleute und Intellektuellen — als „Reaktion” auf diese Reminiszenzen erklärt werden kann, ist mehr denn fraglich. Stehen wir tatsächlich heute einer Spätwirbung dieser schmerzlichen Episode gegenüber, die als unverdauter Brocken erst in unseren Tagen seine böse Wirkung zeitigt? Der Autor selbst gibt zu, daß in der heutigen Zeit das geschichtliche Bewußtsein und das geschichtliche Erinnerungsvermögen schwer gelitten haben. Ist doch der moderne Mensch ein Wesen mit einem historischen Schrumpfhim. Nun aber haben viele unter uns den Drang, einen autonomen Sinn und einen Zweck in die Geschichte hineinzudichten, weil sie in ihr so gerne eine moralische Anstalt sehen möchten. Erinnern wir Ältere uns daran, wie man 1936 die Schrecken der Glaubensverfolgung in Spanien als „Reaktion” auf die Schrecken der Inquisition dargestellt hat — aber wo blieben dann die antikatholischen Ausbrüche in Belgien, das einst dieselbe Last eines theolo- gisch-etatistischen Kreuzes tragen mußte? Wo die „Strafe” der Türken für die Armeniermassaker? Die Geschichte ist „unlogisch”, unmoralisch; die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht und die Welt viel eher nach den Worten des von allen Christen immer mehr geschätzten Augustinerpaters Martin Luther

O. S. A. „des Teufels Wirtshaus”. Würden manche der sogenannten „Modernisten” (laut Köhler sehr richtig von den „Reformkatholiken” zu unterscheiden) fleißiger gelesen werden, würde die katholische theologische Demimonde von heute des Hochgefühls ihrer Originalität bald beraubt sein.

Der Wert dieses Bandes liegt aber vor allem in den weisen und gewogenen Aussagen über die jetzige Situation: die Warnung vor dem Freiheitsoptimismus, die Warnung sowohl vor dem kindischen Fapalis- mus als vor einem kirchlichen Masochismus, das Lob für die Engelsgeduld der heutigen Kirchenführung (von Raunzern schlecht belohnt), die Bejahung einer Theologie, die nicht „pseudosoziologisches Gerede ist”, aber auch die so wichtige Erkenntnis, daß der Weg aus dem Chaos nicht über die Theologasterei führt, sondern zu „einem sehr schlichten Glauben, in einer sehr unmittelbaren Begegnung mit unserem Herrn”. Das sind Worte eines scharfsichtigen Beobachters und Analysten, dessen kritischer und zugleich loyaler Sinn nur größte Bewunderung erregen kann.

BEWUSSTSEINSSTÖRUNGEN IM KATHOLIZISMUS. Von Oskar Köhler. Josef-Knecht-Verlag,

Frankfurt am Main. 268 Seiten, Leinen, DM 23:—.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung