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Thun-Wozniakowska, Krakau

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Es stimmt, daß jeder in Polen lebende Pole mindestens zwei Sprachen lernen muß: seine eigene, die für die normale menschliche Verständigung verwendet wird, und das Orwellsche „newspeak" („Neusprache"), also die offizielle Sprache, die aus den Massenmedien, aus der Partei, der Regierung herausquillt.

Wir werden für zwei Leben erzogen: das öffentliche und das private Leben. Die Diskrepanz zwischen den beiden ist enorm. Vorträge über Sozialismus als der einzige und einzigartige Weg des wirtschaftlichen Fortschritts -und am Abend das Fluchen über die leeren Läden; der Applaus bei einer Parteiversammlung und die

Diskussion bei einem Glas Wodka über die offenkundigen Beweise der Zerstörung des Landes durch die Partei; die Ja-Stimme für ein neues Projekt zur Förderung enger, brüderlicher Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und der jüngste bissige Witz über den Großen Bruder ein paar Stunden später — alles das war bis August 1980 die normale Moral und die Verhaltensnorm einer beträchtlichen Gruppe von Menschen.

„Die Fassade und das Dahinter" - ich bleibe einmal bei dieser Terminologie von Baranczak. Bis August 1980 war Polen ein großes Potemkinsches Dorf mit einer künstlich für auswärtige Beobachter errichteten Fassade. Diese Fassade sollte die Illusion vermitteln, daß das Land keine ernsten Probleme hatte und die Bürger vollkommen glücklich waren. Was dahinter geschah, wußten nur jene, die dort litten.

Vaclav Havel schrieb, daß die einzige von den Behörden in Osteuropa akzeptierte Form der Ästhetik die Ästhetik der Banalität sei, die Ästhetik der Schlagworte und Gemeinplätze. Die totalitäre Beherrschung der Kultur in Polen zur- Verhinderung gefährlicher spontaner Kreativität hat ein neues, mehr oder minder 30 Jahre altes künstliches Wesen geschaffen, das die Spontanität zu ersetzen versucht.

Dieses Wesen hat vorrangig Zugang zu Massenmedien, bekommt genügend Papier zugeteilt (was immer ein ernstes Problem in Polen ist), erhält genug Geld und immer einen Platz auf der Bühne. Es versucht die Schaffung einer neuen Kultur und bedient sich dabei oft der Formen der echten polnischen Kultur, indem sie diese ihres Inhalts entleert und den Hohlraum mit kommunistischem Papp auffüllt.

Die Erfinderkraft auf diesem Gebiet ist unbeschränkt. Ein paar Beispiele: Wir haben den Tag des Kindes, den Tag des Milchmanns, des Briefträgers, den Mutter-, den Vater- und den Großmuttertag, den Tag des Lehrers und den Tag des Schülers, den Tag des Metallarbeiters, des Soldaten, des Polizisten, Lenin-Tage, Tage der Freundschaft mit der UdSSR etc. etc.

Hinter allen diesen Bemühungen steht die Absicht, jenen Raum mit Banalität zu füllen, wo sich irgendeine Initiative im Bereich der Kultur zeigen könnte - immer das gleiche und immer sinnlos.

Ein anderer Trend dieser „neuen Kultur" sind die vielen Festivals. Lieder-Festivals blühen in Polen: ein Festival der Militärlieder, des sowjetischen Liedes, des Volksliedes, der Studentenlieder und viele andere…

Ein anderes Phänomen dieser „neuen Kultur" ist der Bedarf an Laienzeremonien. Hier versagt häufig die Einfallskraft, und das Standesamt übernimmt einfach die Formen der Kirche. Ziviltrauungen gehen mit viel Blumenschmuck, Musik und schrecklich langen Formeln vor sich. Die sogenannte Namensgebung am Standesamt versucht eindeutig, die Taufe nachzuahmen.

Diese Ersatzzeremonien waren so wichtig, daß es zum Beispiel in Schlesien eine bekannte Tatsache war, daß jungen Leuten eine Wohnung versprochen wurde, wenn sie sich schriftlich verpflichteten, nicht in der Kirche zu heiraten. Um das ganz zu verstehen, muß man den enormen Wert einer Wohnung in Polen kennen.

Ich behaupte nicht, daß dies der Haupttrend in der Fassade der polnischen Kultur war. Es war aber jener Trend, der am dramatischsten die Diskrepanz zwischen dem Aufgezwungenen und dem Benötigten zum Ausdruck brachte…

In diesem Zusammenhang möchte ich eines betonen: Die polnische Dissidentenbewegung ist keine Gegenkultur:

Wenn man von einer Protestbewegung reden will, muß man hervorheben: Protest nicht gegen Kultur, sondern gegen eine Karikatur davon. Es war eine schöpferische Bewegung und eher eine Bewegung für als gegen etwas.

Die Fassade brach im August 1980 zusammen.

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