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Tränen des Zorns

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Bis zum Jahre 1917 war das Spiel noch offen. Immer noch, vor dieser Zeitenwende, wäre in Österreich- Ungarn, zur Überwindung der unterschiedlichen, in jedem Reichsteil anders strukturierten Oligarchien, die naturgebotene Allianz der linken Intellektuellen mit der Dynastie möglich gewesen. Die Dynastie hatte es, im Gegensatz zur Situation im wilhelminischen Deutschland, nicht an einladenden Gesten fehlen lassen; für ihr Verhalten war im allgemeinen die Vernunft maßgebend. Für die linken Intellektuellem aber war und blieb die Doktrin maßgebend. Und so kam es denn in den folgenden Jahrzehnten, wie es im Donauraum niemals hätte kommen müssen (man rede uns das nicht nachträglich ein!), ging es über Bürgerkrieg, Weltkrieg, Massenmord, Scherbenhaufen und Stunde Null bis zu den heutigen Versuchen, längst gestorbene und mumifizierte Linksideologien auf kaltem Wege für alle Ewigkeit zu restaurieren. Und wieder einmal scheint es, heute wie ehedem, allein die ehemalige Dynastie zu sein, die aus den Ereignissen gelernt hat.

Österreich-Ungams Linksintellektuelle kamen teils aus dem jüdischen Großbürgertum, teils aus dem niederen Adel und ödön von Horvath war einer der wenigen, die ihre Herkunft nicht zu verschleiern versuchten. Er, der Dichter, bedurfte nicht der sonst in jenen Kreisen üblichen Decknamen, wie er denn überhaupt echt war bis ins Tiefste seines Wesens, echt in seinem bohrenden Haß, echt in seiner nervösen Verletzlichkeit, echt in seinem ungeheuren, empörten Mitleid, das ihm immer wieder Tränen ohnmächtigen Zorns in die Augen trieb. Er liebte sie wirklich, die Geschundenen, die hilflos Dummen, er stellte sie auf die Bühne und schuf so — erst heute wissen wir es sicher — einige der unvergänglichsten Gestalten der deutschsprachigen Literatur. Mit der angeborenen Musikalität des Ur- und Altösterreichers erlauschte er den genauen Tonfall jenes bodenständigen Umeinanderredens, das keinen Dativ kennt und Konjunktive jeglicher Art verachtet, reproduzierte ihn in Dialogen, deren photographisch echte Unlogik erschüttert, deckte er jene Abgründe und Tücken der österreichischen Seele auf, die vom bundesdeutschen Nachbarn immer noch klischeegetreu für Charme gehalten werden. Was es auf diesem Gebiet vor ihm gegeben hatte, war mit Ausnahmen Kitsch; was nach ihm kam, Abklatsch.

Blind vor Mitleid, suchte Horvath nach der Quelle allen Übels und glaubte sie irgendwo bei den Spießern, Kleinbürgern und Angestellten finden zu können. Immer wieder bemühte er sich, und bemüht sich auch heute noch sein Kommentator Traugott Krischke, diesen sagenhaften Spießer begrifflich abzugrenzen und zu lokalisieren, was nicht gelingen konnte und kann, weil die verhaßten Eigenschaften, die der Dichter nur im kleinbürgerlichen Parterre anzutreffen glaubte, in Wirklichkeit Merkmale des Volksganzen sind, sich rudimentär auch im ersten Stock, zum Kubus erhöht aber im proletarischen Souterrain vorfinden. Diese simple, leicht zu kontrollierende Tatsache aber durfte und darf nicht wahr sein (nicht wahr?), steht sie doch im Widerspruch zur Doktrin, die besagt, daß der Logos nicht von oben herabstößt und Fleisch wird, sondern sich, aus der Tiefe aufsteigend, durch Mehrheitsbeschlüsse wundersam fortentwickelt. Ein barmherziger Baumast erschlug den noch jugendlichen Dichter und ersparte ihm die spätere, unabwendbare Erkenntnis, daß sein tiefer, blutig verteidigter Glaube sich selbst widersprach.

Was blieb, ist die Dichtung. Ist das bittere Lächeln, ist das Grau eines nie endenden Novembers. Ist das große Mitleid ödön von Horvaths, das alle seine Dramen durchdringt, nun auch diese kleinen, ausgewählten Erzählungen („Aus den nördlichen Kalkalpen“ und „Geschichten vom Fräulein Pollinger“), die auch jenseits der dramatischen direkten Rede die schauderhafte vulgär- österreichische Denk- und Sprach- verschlampung mit photographischer Genauigkeit wiedergeben — ist das schmerzverzerrte Lächeln, ist jene undefinierbare Melodie, die Horvath allein zu spielen vermochte, deren Instrument und Geheimnis aber verlorenging.

Mitleid überdeckt auch jene Stellen, in denen Horvath platteste austromarxistische Predigten hält, die heute nur noch ahnungslosen Bundesrepublikanem originell Vorkommen können. Auch das erträgt man von einem Dichter, dessen Mitleid immer noch größer war als sein Haß.

VON SPIESSERN, Kleinbürgern und Angestellten. Von Ödön von Horvath. Band 285 der Bibliothek Suhrkamp. Auswahl und Nachwort von Traugott Krischke. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt am Main. 169 Seiten.

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