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Unter Moskauer Regie

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Die Art, wie wir unsere „Vergangenheit zu bewältigen” suchten, hat zu seltsamen Einseitigkeiten und zu gefährlichen blinden Flecken unseres historischen Bewußtseins geführt. Wer etwa heute den Spätherbst des Jahres 1923 in Erinnerung ruft, kann sicher sein, daß so gut wie alle seine Zuhörer an den 9. November 1923 und an den Putsch Hitlers und Ludendorffs in München denken. Daß im gleichen Spätherbst die Sowjetunion den großangelegten Versuch unternahm, mit Hilfe von Aufständen der kommunistischen Partei die Macht im Deutschen Reich an sich zu reißen, ist kaum einem Zeitgenossen gegenwärtig.

Das ist um so erstaunlicher, als es keineswegs an Informationen über dieses Unternehmen fehlt; im Gegenteil: Die kommunistische Geschichtsschreibung behandelt seit langem diese Vorgänge in aller Offenheit und muß es wohl auch tun, denn das Scheitern dieser Ausdehnung des Sowjetsystems auf Deutschland war ein entscheidender Wendepunkt in der Entwicklung der kommunistischen Lehre. Bis dahin hatten die Sieger der Oktober-Revolution geglaubt, daß ihnen im industrialisierten (und durch Krieg und Nachkrieg weithin proletarisierten) Deutschland über kurz oder lang der gleiche Umsturz werde gelingen müssen, der ihnen 1917 im agrarischen Rußland — entgegen der eigenen Theorie und daher überraschend — gelungen war. Das Scheitern des lange geplanten Vorhabens nötigte zum Umbau der Theorie. Von hier datiert der Ausbau der Lehre von der „friedlichen Koexistenz”, die bis heute diė politische Doktrin und die propagandistische Strategie der Sowjets beherrscht. Schon damals wurde klar ausgesprochen, was darunter zu verstehen ist: Ein vorübergehender, wenn auch vielleicht recht langdau- emder Zustand, der durch zwei Grundtatsachen charakterisiert ist, durch das Nebeneinander von Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung und durch den ideologischen Kampf gegen die Gesellschaftsordnung des „kapitalistischen” Staates.

Das Buch von Werner T. Angress ist schon 1963 in Amerika erschienen und hat längst die Anerkennung der Fachwelt gefunden. Man muß es als symptomatisch werten, daß es zehn Jahre gedauert hat, bis eine deutsche Übersetzung (von Heinz Meyer) bei uns erschien. Der Autor, Professor für Europäische Geschichte an der Staats-Universität von New York, hat die Gelegenheit benutzt, um die deutsche Ausgabe auf den neuesten Stand zu bringen und sich mit den inzwischen veröffentlichten Quellen Memoiren und Darstellungen auseinanderzusetzen. Dies führt zu umso aufschlußreicheren Ergebnissen, als für die „Kampfzeit” der KPD relativ viele Veröffentlichungen kommunistischer Historiker vorliegen, die nicht nur Quellenmaterial darbieten, sondern auch die parteioffizielle Interpretation der Vorgänge erkennen lassen.

Der „Deutsche Oktober” 1923 war der dritte Versuch der Kommunisten, sich die Herrschaft über die deutsche Republik zu verschaffen. Nachdem sich die Revolution von 1918 nicht zu ihren Gunsten entwickelt hatte, unternahmen sie 1921 in Mitteldeutschland die „März-Aktion”, die mit einem blutigen Fiasko endete. Der Auf stand im Herbst 1923 stand völlig unter Moskauer Regie. Das zeigt sich vor allem an der Tatsache, daß der Befehl zum Losschlagen in Moskau und eigentlich gegen die Überzeugung der aus Deutschland herangeholten Spitzenfunktionäre beschlossen wurde. Für die Machthaber im Kreml, die von dort aus die Kommunistische Internationale steuerten, ging es dabei auch um ihre Startposition für den Kampf um die Nachfolge Lenins, dessen Tod bevorstand. Die deutschen Arbeiter, die in Mitteldeutschland und in Hamburg in einen aussichtslosen Aufstand getrieben wurden, wurden von den Strategen im Kreml für den Austrag ihrer Diadochenkämpfe mißbraucht, was allerdings den deutschen Parteiführern nicht klar gewesen zu sein scheint.

Das Buch von Angress gehört durch seinen Materialreichtum und die Ausgewogenheit seines Urteils zu den wichtigsten Werken über die Geschichte der Weimarer Republik. Es korrigiert das falsche Bild der frühen zwanziger Jahre, das durch die einseitige Beschäftigung mit Nationalismus und Hitler-Partei entstehen mußte. Schließlich zeigt es an einem höchst eindrucksvollen Beispiel die Ziele und Methoden des Sowjetkommunismus, von denen man leider sagen muß, daß sie sich verfeinert, aber nicht geändert haben.

„DIE KAMPFZEIT DER KPD 1921—1923”, Werner T. Angress, Verlag Droste, Düsseldorf, 547 S., Ln., 53 DM.

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