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Unterwegs zum Marktfest

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Das dritte Buch des 31jährigen Autors beschreibt eine imaginäre Reise von vier Menschen durch eine sonderbare, zuweilen rätselhafte Welt, deren Chiffren sie nicht deuten können, oft auch nicht deuten wollen. „Reise über das Eis“ wird im Herbst im Residenz-Verlag Salzburg erscheinen. Wir freuen uns, das Buch durch eine Leseprobe vorstellen zu dürfen.

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Das dritte Buch des 31jährigen Autors beschreibt eine imaginäre Reise von vier Menschen durch eine sonderbare, zuweilen rätselhafte Welt, deren Chiffren sie nicht deuten können, oft auch nicht deuten wollen. „Reise über das Eis“ wird im Herbst im Residenz-Verlag Salzburg erscheinen. Wir freuen uns, das Buch durch eine Leseprobe vorstellen zu dürfen.

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Er war eine lange gerade Straße hinuntergegangen, die in einem leichten Gefälle - wie sich herausstellte - zum Bahnhof führte. An diesem Morgen schien die Luft durchsichtiger als zu anderen Tageszeiten an anderen Orten, summte und sirrte vor Erwartung an den Fensterscheiben der mehrstöckigen Häuser auf beiden Seiten. Aus dem Asphalt wachsende Agaven säumten die Gehwege und schufen somit eine Wand von zäher Widerstandskraft gegen den Fahrbahnverkehr, dessen ansteigende Turbulenz sich mit jeder Minute einem bevorstehenden Chaos annäherte. Karren wurden geschoben und gezogen, beladen mit Früchten und Nutzgewächsen und allen denkbaren Formen und Farben, in Kisten und Schachteln verstaut oder zu rollenden Bergen gehäuft, auf deren Gipfel die Kleinsten saßen, die vordere Kopfhälfte in einer ausgeschabten Melonenhälfte versteckt, in den Mund einen Pfirsich gestopft, während die vor die Schub- oder Zugkarren gespannten Mütter sich gegen die andrängende Last stemmten, um nicht überrollt zu werden, die wertvollen Waren, die leiblichen Kinder nicht frühzeitig loszuwerden auf der schräg abfallenden Bahnhofsstraße.

Klapprige Motorfuhrwerkzeuge, von den Männern in zerbeulten Führerkabinen gelenkt, waren scheppernde Stallzwinger für das schwarz-fleckige gelbhäutige Vieh, das auf den Ladeflächen brüllte und gegen die losen Bordwände stieß, seine langen gebogenen Hörner in die Blechkabine rammte und dem Fahrer den Nacken durchlöchert hätte, wären die Spitzen nicht vorsorglich gekappt worden; um so mehr glänzte feuchte Trauer auf der Oberfläche ihrer Augenkugeln, diesen sonderbaren, von Schmeißfliegen begehrten Marmor-äpfelchen, die stumm brüllten, nicht zu übertönen vom pausenlosen Hupkonzert der Lenker, die ihre Frauen vor den Karren zur Eile und Geschäftigkeit anspornten.

Auf den Gehwegen wurden Kleintiere transportiert, in Körben und Butten, flatterndes oder geköpftes Geflügel, die Krallen mit Haarbändern oder Ledergürteln gefesselt, gebündelt in Säcken, die Hasen, Kaninchen, vor oder nach einem scharfen Handkantenschlag ins Genick, das Wild über die Schultern geworfen, Grünzeug im Maul, das stockende Blut, die quellenden zerfetzten Gedärme aufzufangen, die vielen Ein» schußöffnungen gespickt mit Reisigzweiglein, schmähliche Nachweise für einen schlechten Jäger, und das erlegte Raubzeug, Füchse und Wölfe und Wildkatzen, mit Distelbüscheln oder schroffen Steinbrocken zwischen den Zahnreihen.

Manche Frauen, die Stirn von einem Kopftuch schirmartig beschattet, hielten ihre Kittel hochgerafft, den Korb zu ersparen, darin violette gurkenähnliche Früchte, die feilgebotene Habe, oberhalb der entblößten Knie, die schneeig blühten in der Hitze des Getümmels, oder führten eine einzige Kuh am Strick, wurden ihrerseits von der Kuh gezogen, deren Flanken einige der vorbeieilenden Männer scheinbar interessiert tätschelten, um in ihrer Ausgelassenheit einen Anlaß zu finden, ans Gesäß der Besitzerin zu fassen, zum Vergleich, worauf sie ein spöttischanerkennendes Gesicht schnitten, laut loslachten, sich und ihre Tragkörbe schüttelten vor schallendem Vergnügen, so daß plötzlich Flügel herauswuchsen aus ihren Rücken, mitten im Gackern und Schnattern, im Keifen und Zetern der Frau, die ihre Schimpfwörter wie blankblinkende klappernde Kieselsteinchen in die Menge verstreute, ohne stehenzubleiben.

Und stockte der Zug der Händler, der Bauern und Landarbeiter, der Gemüsefrauen und Obstverkäufer, stoppte der Fluß der Waren durch die offene Vitrine der Bahnhofstraße, wegen einer unverhofften Gegenbewegung, konzentrierte das Tosen und Treiben sich an mehreren Stellen, Mittelpunkten spiralstrudelförmiger Wirbel der zerteilten Karawane, brach die Radachse eines Lastwagens, und die Güter kippten vor die Füße, vor die Hufe, zerquetscht und verdorben, oder ein vorverlegtes Verkaufsgespräch endete in einem landesüblichen Faustkampf, der kaum für die zu erwerbende Ware, sondern für den alten oder neuen Besitzer Auswirkungen zeitigte, dann kreischten die Frauen und schleuderten Wurfgeschosse gegen die aus dem Wagenfenster fluchenden Männer, Zitronen und Orangen zum Beispiel, weil ihre Schultern bereits zerschunden waren, ihre Arme lahm, und die Eierfräulein, behutsame Mädchen und Mägde in Glockenkleidern, bangten um ihren Ertrag, den sie nach Sitte und Brauch für die Aussteuer beiseite legen.

Dann konnte auch passieren, daß von den holpernden Karren die Kinder fielen, nach einem Aufprall oder Rammstoß, einem Straucheln der Zugtiere im Gedränge, gefährdet von der herabstürzenden Ernte der heimischen Felder, und ein im Hals steckender Pfirsichkern färbte ihre Gesichtchen violett wie die Früchte in den hochgerafften Schürzen, während die Mütter im selben Moment in eine Wahnsinnsverzweiflung flüchteten, ein paar Pferde den Asphalt düngten (doch niemand huschte verschämt mit Schaufel und Bartwisch aus einem Hausflur heraus), dabei ihre mit bunten Papierschlangen verflochtenen Schwänze reckten oder die Straße bewässerten, etwas Grell-rosafarbiges wachsen ließen zwischen den Hinterbeinen, etwas Kolbenförmiges, Fleischprügelhaftes, das in einem bestimmten Winkel zu Boden starrte und den Buben an der Spitze der im Gänsemarsch daher-stelzenden Ziegenherde die Pupillen weitete; und Kälber saugten an einem Blecheuter, an einer Gummizitze, weil die Milchkuhmutter schon auf dem Weg zum Markt verschachert wurde, etliche hundert Meter vorher, obwohl einige Landstriche weiter nördlich verdächtigem Vieh der Schädel vom Leib getrennt wird, abgeschnitten, verpackt in Aluminiumfolie, Pappschachtel oder einen Behälter, verladen und verschickt in die noch fernere Hauptstadt, um die Vermutung einer Wutkrankheit, dem Willen des Eigentümers zufolge, zu widerlegen.

Kaum oder nicht beachtet auch: die geschlossenen Fensterläden ebenerdig, die vorgezogenen Jalousien da oder dort, wogegen die Gischt des Geschehens brandete, wellenzun-gengierig anleckte, dahinter möglicherweise eine spitznäsige feinglied-rige Dame, im dämmrigen diesigen Verlies, an einer zartwandigen, mit einer östhchenMorgenlandschaft, geschmückten Teeschale nippend, an Schneegipfeln und Kirschblüten, als wär's eine Spur, ein Rest einer vergangenen Beweglichkeit, sorgsam bewahrt gegen den Lärm draußen durch Watteflocken, die in Sandelholzöl getaucht ihre Ohrmuscheln verschließen.

Und bei einer einzigen Gebärde, einer scheinbar nebensächlichen oberflächlichen, wenn sie die Porzellanstatuette auf der Konsole zurechtrückt, die vielleicht den Raub der Sabinerinnen darstellen könnte, oder mit dem Ärmel ihres jettschwarzen Musselinkleides über die kandierten Früchte streift, wie unabsichtlich und halbbewußt, oder mit dem Blick über die Daguerreotypie einer verlorenen Seeschlacht, zeigte sich in den Mundwinkeln die Ahnung einer als Unverständnis getarnten Empörung, die sich sogleich in Zärtlichkeit wandelt, sobald ihre Lippen den Astüben und Pelargonien zuzuflüstern beginnen und die Vorgänge jenseits der Gardinen zu einem leisen Rascheln verkümmern, einem Flügelschlagen im Gesträuch.

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