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17. Septemker I9i7 in Fatima

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Bereits am Vorabend näherten sich Züge von Menschen auf allen Straßen Fatima. Viele berührten den Weiler Aljustrel gar nicht. Verdeckte Karren mit Kranken, Barfüßige, Väter mit Kindern auf den Schultern, Frauen wiegten sich dahin. Dunkel schien die Riesenschlange, die sich auf Pfaden und sandigen Wegen näherte, und nur das aufglühende Rot der Kittel der Kinder, das in der Sonne brennende Gelb von Mädchenblusen, die Schaumtupfer der Kopftücher verwandelten das trockenbraunc Land in einen wie vom Winde bewegten Blumengarten. In aschenbleiche Staubwolken schoben sich geduldig einige Autos dahin. Von allen Seiten wurde so die Cova da Iria gleichsam belagert, in mühseligem Sturm genommen.

Die Bauern von Portugal wollten dabei sein, wenn sie, die Königin, in ihr Land herniederstieg. Ihre Gesichter spannten sich in hoffnungsvoller Liebe, die trockene, rissige Erde wurde verlassen, auf den Gebetswolken verließ man den Boden des festgefügten Lebens, um in würdevoller Einfalt die Jungfrau zu preisen, die ihnen ein Tor öffnete, in das sie voll sanftester drängendster Liebe einzogen.

Und warum sollen nicht auch sie dabei sein, die Neugierigen, Wunderlüstigen, Zweifler und Heuchler? Alle, alle kommen sie auf vielfach verschlungenen Pfaden, um etwas zu erleben, um auch dabei zu sein. Und wie gescheit kamen sich doch die Gescheiten vor! Man wollte sich dieser Massensuggestion hingeben! Man wollte sich ihr nicht hingeben! Man nahm sich vor alles zu erblicken, alles zu erspähen. Man nahm sich vor, auf seinen zwei Beinen, gespreizt, wie mächtige Betonpfeiler fest auf dem Boden der Wirklichkeit zu verharren. Es gab Gespräche, die auf der Zunge angenehm prickelten und sich emporschlängelten in hochmütigem Glanz. Was für ein Erlebnis, die Cova, gefüllt mit wehenden Feuern unter sich, mit kleinem

Achselzucken Gott einen Raum zuzuweisen, in dem er ein wenig schalten durfte — das fadenscheinige Gewebe der gescheiten Reden wurde gewendet, daß das alte Zeug nur so aufschimmerte und die Worte gewichtig aneinanderklirrten. Kindisch, nicht kindlich war es an eine Erscheinung zu glauben! Sahen sie vielleicht alle? Nein, nur drei Hirtenkinder, die man nicht kannte. Wußte man, was da heranwuchs in der Einsamkeit? Ja, ja, sie erblickten tatsächlich die Erscheinung. Sie zauberten sie gleichsam aus-ihrem wunderbegehrenden Inneren. Und sie lauschten ihrer eigenen Stimme. Süßlich-gipserne Märchen! Aber bitte — man konnte ja dabei sein, sich ein eigenes Urteil bilden. Wunder hatte es schon immer gegeben Der arme Mensch entzündet sich daran, er kann fliegen, sein Leben gleichsam überfliegen. Wunder wird er immer wieder aus seinem Herzen zaubern. Einfacher zu denken wäre in diesem aufgeklärten Jahrhundert geradezu unverzeihlich!

In funkelnder Frische sank die Nacht in die Mulde, und dennoch stiegen immer wieder eintönig-eindringliche Gebete empor, um die Himmel zu stürmen mit kindlicher Frömmigkeit. Langsam verglommen die Feuer, nur noch die Tiere, die Meisen und Berggrünlinge stimmten ihren lieblichen, schlaftrunkenen Gesang an, und die Eidechsen verkrochen sich in die Ritzen der Steinmäuerchen, nur ihre Augen blitzten brillantengrell. Fledermäuse vollführten ihren weichen Flug, schräg durchpflügten sie die Lüfte. Und die Mulde sank tiefer in den Traum. Maulwürfe mit ihren rosa Samtpfoten warfen mit Eifer Hügel auf, für sie war Nacht und Tag dasselbe, der Wind brauste stürmisch — aber das war der Atem der Tausende, die nur noch schwarze Hügel bildeten.

Die große Mulde war nur ein einziger sich dehnender Körper, als der Morgen den Himmel straff spannte wie ein großes Zelt, gewoben aus glänzender, blasser Grüne. Abseits, auf dem Rand dieser ungeheuren Muschel gegen Osten, erhob sich der Generalvikar von Leiria, der mit einem Freund gekommen war, um zu sehen, was hier geschah. Langsam erwachte der Riesenleib dort unten, und schon glommen die Gebete auf, noch beschwert von nächtlicher Mattigkeit, flackernd wie die Feuer, die man wieder entzündete. Kaum daß die Menschen erwachten, fielen sie ins Knie, dunkle Flecke in der verschwommenen Helle. Der Himmel zog die Sterne in sich. Kinder weinten, schrien und balgten sich. Und die Esel fanden es an der Zeit, ihre wahrhaft wilden, mißtönigen Schreie auszustoßen, Empörungsschreie, die unsanft die letzten Schläfer mahnten, Buße zu tun und für die Welt den Frieden zu erflehen

Bald flocht die Sonne über den Himmel ihr Strahlennetz, in dem sie alles Lebendige fing. Dort unten brauste es, und es fluteten die Farben durcheinander, die schwarzen Gewänder fraßen die rosa Töne, die weißen waren nt winzige Rahmspritzer in der Flut und die giftiggrünen glänzten eitel und scharf.

Ja, von hier aus, wo der Generalvikar und sein Freund standen, war die Mulde eine Schale, gefüllt mit üppigen Blumen, mit denen der Wind sein Spiel trieb. Die Schatten wurden klein und abgrundblau, als ganz am Rande der Cova drei Kinder auftauchten und untertauchten in der aufschäumenden Menge. Heftig schwankte das Blumenschiff, Schreie stachen spitz in den Himmel, es klirrte von Stimmen Halbwüchsiger, eine Wolke sehnsüchtiger Hoffnung stieg empor. Männer mußten den Seherkindern eine Bahn schaffen, es dauerte lange, ehe sie bei der Steineiche angekommen waren, und es schien schwer, ihnen Raum zu schaffen. Und dennoch hörte man plötzlich die Stimme Lucias, ganz klar sprang sie auf, wasserhell: „Betet, betet!“

Es brauste, es klang wie Sturm, als die vielen ins Knie sanken. Die Stimmen schwollen an zum Dröhnen eines Berggewässers. Der Generalvikar hob den Kopf, um in den Himmel zu schauen. Keine Wolke.

Sein Freund wollte etwas sagen, aber der Arm, den er ausstreckte, um die Schulter des anderen zu berühren, fiel ihm schlaff herab. Dem Osten entstieg eine blendende Kugel, die langsam und königlich gegen den Westen schwebte. Die Sonne schien matt, und eine schaumige Wolke bedeckte die kleine Eiche. Durchdringend bernsteingoldenes Licht erfüllte die Mulde, ließ die Bäume aufstrahlen. Aus dem Himmelsraum schneite es Blüten, mit schattenblauem Rand.

Man hörte den Ruf Lucias: „Dort — seht!’

Die Kugel, geformt aus blendender Weiße, stieg und stieg. .. Schreie, Gebete, durchstießen die Bläue des Himmels. Wie verschluckt schienen die drei Kinder zu sein vom Schäumen und Branden der Farben, von staunenden Mündern aufgesogen. Man versuchte, sich in ihre Nähe durchzukämpfen, Erschütterung brannte jäh auf, man rief von Bäumen herab, auf den Schultern der Väter, von Mauern: „Auch für uns legt ein gutes Wort ein," „Der Sohn ist taub.“ „Die Mutter siech." „Der Onkel krank."

„Was hat sie gesprochen?" „Soll eine Kapelle errichtet werden?" „Wann kommen unsere Männer zurück?“ „Wann wird ein Wunder geschehen?“ „Wie?“ „Im Oktober?"

Keine Schafherde hätte die Cova so zertrampeln können wie die Menschenmenge. Es half nichts, daß einige Männer die zarte Steineiche schützen wollten. Sie wurde geplündert.

„Und? Was meinst du zu der Kugel?“

„Die Kinder sahen Sie — wir nur diese weißblendende Kugel es war die Madonna

Freund, die Madonna —"

Der Generalvikar stieg langsam hinab in die Cova, er wußte gar nicht, daß ihm die Tränen in den Mund sickerten, er fühlte sich matt und zerschlagen. Er sah nichts mehr, nur verschwimmend das braunrosige Land unter sich.

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