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Was sah der Kentaur am Tag des Gerichtes?

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Herbst war und kühl hingen die Weintrauben unter bläulich geäderten Blättern, als der burgenländische Kentaur über die Alleen trabte, am Tag des Gerichtes. Krumm und steif spannten sich seine Barthaare wie aus Draht, und ab und au knisterten Funken von Haar zu Haar um den elektrisch aufgeladenen Kentaurenschädel.

Aus ihren Kellerlöchern und lehmig finsteren Stuben krochen Menschen herbei, blinzelten im Zwielicht, schauten staunend in den perlmutt-farbenen Schein des allmählich erglühenden Fegefeuers (oder was immer das sein sollte: dieses um sich greifende Glimmern hinter dem Horizont), schnappten mit Mündern wie Fische nach Luft und griffen aus Gewohnheit zum Messer oder ballten müde die Faust

Es waren die Armen, die nun die freundliche Gegend als eine einzige, wimmelnde, wimmernde, vor Unglück und vor banger Erwartung zuckende Masse überrannten: die Aufgeregten und die Verfluchten, die Gekränkten und die Verstoßenen, adle, die krank und häßlich geworden waren durch verkrampft freudlose Anstrengung, feuchtes Mauerwerk, mit Chemikalien zubereitetes Essen. Es humpelten alle herbei, denen die Stärkeren gegen das Schienbein getreten hatten oder in den dürren Hinterteil; es kamen die leichtfertig Berauschten, denen ein grober Witzbold das einzige, wohl gehütete Geheimnis von den Lippen gelesen hatte in einem Augenblick der flüchtigen Schwäche, um das geflüsterte Geständnis aller Welt fröhlich zuzubrüllen; es trafen sich diejenigen, die allzu leicht weinten oder immer wieder allzu schnell zuschlugen, um nicht weinen zu müssen.

Häßliche Frauen schrien die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren war, kreischend in das laublose Geäst. Alle Männer, die lieber zittern wollten als fest zugreifen, schüttelten die stramme Starre aus den Gelenken und bebten wie Greise im Wind.

Melancholiker wollten ihre durch Trübsinn deformierten Körper nicht länger verbergen, denn seelische Verletzungen hatten ihre milde Trunksucht als gutes Gegenmittel hervorgebracht und die unter behaarter Haut verborgenen Speckschichten waren — in ihrem alkoholischem Ursprung — nur die Folgen psychischer Irritationen, waren gleichsam Jahresringe des Leidens: dem verbitterten Menschen als trügerisch bauschiges Kostüm um die Taille geschnallt.

Kurzsichtige trugen in der Stunde des Kentauren den Schein der blan-

ken Torheit in den Augen und blickten nach innen in das Chaos ihrer Qualen und ihrer bisher unbemerkt gebliebenen und nun nicht mehr — nie mehr — genießbaren Triumphe. Und die Schwerhörigen riefen in unverschämter Gier nach einer noch lauteren Posaune, denn burgenländi-sches Gemäuer setzte dem fluchenden, fauchenden Zorn viel mehr Widerstand entgegen als jene aus Bruchstein mühsam emporgetürmte Umfriedung, die einst rund um Jericho in lockeres Geröll zerfiel.

Unter den weißen Bögen einer Gasse in der Ortschaft Mörbisch redeten sich Frauen ihre Angst und ihre Neugier von der Seele, brüste-ten sich mit der leidvollen Süße ihrer Sünden oder wehklagten über all die Jahrzehnte einer still, stumm und stumpf ertragenen Unschuld. In Purbach steht eine alte Trinkerheilanstalt, in der das Leid der Trinker durch Riesling geheilt wird: hier trafen sich Männer im Rausch, über das Fassungsvermögen ihrer mit Wein durchtränkten Körper staunend oder bereits der Welt entrückt: in die eigene Welt des Traumes, in die Frei-

heit der verschwommen dahingleitenden Erscheinungen, die manches Mal so zart und fast nur ahnbar durchsichtig sind wie hinter dichtem Laubwerk das zweifach gerundete Schimmern einer gerade in die Hocke niedergehenden, sehr jungen Frauensperson. Während sich in Purbach

manche Trunkenbolde wie die heiligmäßigen Männer des Orients mit ihren Flaschen im Staub der Straße wälzten, standen sie vor Schloß Potzneusiedel aufrecht, und zwar in lockerer Eleganz sogar, um den Tag der Gerechtigkeit mit kehlig vorgetragenen Gesängen zu begrüßen — eine Schar engelhafter Speckesser, mit den Melodien Joseph Haydns in den Luftröhren und an den schnapsglänzenden Lippen. In den Park des Schlosses Halbturn aber hatten sich die Denker zurückgezogen, die nach Rat Suchenden, die Gesprächigen, die überzeugten Hegelianer und die Bewohner anderer Kartenhäuser

wortgewal^iper Systeme, um sich Hypotheken ins Gedächtnis zu rufen und sich am dionysischen Spiel der Worte zu ergötzen. Ein im Augenblick der Erkenntnis aus lauter Freude schielender Denker begriff offenbar, daß er nichts begriffen hatte.

In einem imaginären Gasthaus sah der burgenländische Kentaur die Einsamen im Zauberkreis ihres Alleinseins. Unwiderruflich waren die Tage eines noch ohne Rausch erträglichen Lebens vorbei, und in der Leber knirschte verhärtetes Gewebe.

Von der Widersprüchlichkeit seiner Visionen elektrisch aufgeladen, trabte

der Kentaur dahin, während die Büßer und die Denker, die Schrecklichen und die Geschreckten, die Speckfresser und die Engelskehligen einander mit Worten und Blicken und mit erregt zitternden Händen berührten. Es war dies der größte Auflauf und die lauteste Zusammenrottung im Burgenland, und danach wehten noch lange die gurgelnden Schreie und erleichterndes böses Gelächter der Gerechten durch die Luft, und der Kentaur glaubte dann und wann sogar, das rhythmische Glucksen einer Stimme zu hören, die weinte oder lachte, aber er beachtete sie nicht.

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