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Verrterisches Mittelma

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Alles, was auf der Bühne geschieht, ist — im Verhältnis zur Realität — Schein. Wenn eine bestimmte Theatergattung, das Konversationsstück, als scheinhaft dargestellt wird, wenn ein Autor das allseits bekannte Muster als Täuschungsmanöver benützt: was kommt dann heraus? Wäre das Schreiben von.Theaterstücken angewandte Mathematik, wohl die Aufhebung des Scheins: Realität; in der Praxis meist: schlechter Ionesco. Dem Theaterneuling Rene Regenass, geboren 1935 in Basel, bisher Autor von Kurz-Texten, „auch experimentellen“ (wie er sagt), eines Hörspiels, zweier Einakter, von Brotberuf kaufmännischer Angestellter und Redakteur einer Werkzeitschrift, Rene Regenass also unterläuft schlechter Ionesco — aber auch problematische Realität.

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Alles, was auf der Bühne geschieht, ist — im Verhältnis zur Realität — Schein. Wenn eine bestimmte Theatergattung, das Konversationsstück, als scheinhaft dargestellt wird, wenn ein Autor das allseits bekannte Muster als Täuschungsmanöver benützt: was kommt dann heraus? Wäre das Schreiben von.Theaterstücken angewandte Mathematik, wohl die Aufhebung des Scheins: Realität; in der Praxis meist: schlechter Ionesco. Dem Theaterneuling Rene Regenass, geboren 1935 in Basel, bisher Autor von Kurz-Texten, „auch experimentellen“ (wie er sagt), eines Hörspiels, zweier Einakter, von Brotberuf kaufmännischer Angestellter und Redakteur einer Werkzeitschrift, Rene Regenass also unterläuft schlechter Ionesco — aber auch problematische Realität.

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Das Mittelmaß, die banale Normalität, die Konfektioniertheit, die in Regenass' erstem abendfüllenden Stück „Der Anschneider oder Die Abrichtung zum täglichen Gebrauchshund“ sozusagen als die Schauseite von etablierter Aggressivität, von Zwang, Unterdrückung, der Dressur von Menschen erscheint, schlägt um in ein Mittelmaß des Stückes.

Der Autor ist, meine ich, in diesem Fall nur halb verantwortlich. Denn er ist in -die Unausweichlichkeit, in die Vorgeformtheit psychischer Strukturen, in die Verdrängung des Klischees durchs Klischee, die bei der Hauptfigur — dem kaufmännischen Angestellten und Hundeabrichter Paul Meier — mit der als pathologischer Bruch schaubar gemachten totalen .Selbstentfremdung endet, er ist in diese Verfangenheit zumindest mittelbar einbezogen. Zum Teil weiß er es auch: sonst hätte er das Stück nicht schreiben können und nicht geschrieben. Zum anderen Teil ist seine Verfangenheit vielleicht derart, daß er es nicht weiß — oder nicht wissen will, weil seine Sensibilität ihn die Folgen des Wissens nicht ertragen ließe. Und zu einem weiteren Teil weiß er es vielleicht und kann sich nicht wehren. Dieser Teil betrifft das Mittelmaß oder genauer: die Unterdurchschnittlichkeit der theatralischen Produktion. Und da sind wir mit einemmal in anderen als psychischen Strukturen, nämlich bei den Grenzen, die der dramaturgischen Initiative an einem kleinen, schlecht dotierten Landestheater gesetzt sind. Sie reichten von der „Entdeckung“ des Autors — man wurde auf ihn aufmerksam durch Nachrichten aus Biel/ Solothurn, wo 1974 der Einakter „Die Sitzung“ herauskam —, von der Entdeckung also bis zur Korrespondenz über eine kammerspielgerechte Fassung des „Anschneiders“ und schließlich zu dessen Annahme. Sie reichte nicht bis zur Einflußnahme auf eine Inszenierung, die nur die Schwächen des Stückes hervorkehrte. Das Kulturversorgungs- und Gebrauchstheater (ich meine nicht Salzburg, Salzburg ist nur Symptom) hatte seine Uraufführung und seine gerade noch mögliche Moderne und seine gerade noch opportune Gesellschaftskritik.

Unentrinnbarkeit des Mittelmaßes also — und darüber so viele Worte? Natürlich nicht, sondern Erkenntnis darüber. Und sie wäre denn auch der nicht ganz so geringe Gewinn des Abends — vielleicht auch für den Autor. Zwischen der gezeigten Normunterwerfung und der gemeinten sozialen Unterdrückung vermittelt die Sprache. Es ist Sprache aus der Welt der Angestellten, die Regenass genau kennt — aber er kennt sie so gut, daß er ungenau wird, nur noch die Hülsen verwendet Und es ist die Sprache der Hundeabrichter, ein nahezu unverhüllt faschistoides Unterwerfungsvokabular: „ ... Schärfe durch Züchtung ...“, „ ... im Kriechen große Geschicklichkeit, ..... Krieche als verschärfter Zwang ...“, „... Widersetzlichkeit wirkungslos ...“, „ ... Schönheit der Arbeit ...“, „ ... zu seinem Führer blindes Vertrauen ...“. Aber: der Hundeabrichter Paul benutzt diese Sprache, kompensiert damit Triebverdrängung (denn auch der Drang nach Höherem, zur Chefetage, ist ja ein Trieb). Damit wird die Vierer-Konstellation nicht typisch, sondern klinisch: als sogenannter Anschneider, als Jagdhund, der die Beute reißt — die Frau seines Chefs —, verletzt er nur Triebnormen, zeigt er nur Fehlverhalten. Dafür wird er bestraft. Das gesellschaftliche Faktum des hündischen Untertanen ist reduziert auf ein Verhaltensmodell. Die soziale Ursache wird wider besseres Wissen nur läppisch gestreift oder als bekannt vorausgesetzt. Diese Verdrängung ist im Stück nicht gestaltet, wird von ihm aber als unbewältägte Realität mitgeführt. Und da liegt der Hund begraben.

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