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Versuch uber Herbert Wochinz

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Er mag die Lüge nicht, da er zwischen der Dämonie der Bilder des Mythos und der Unmenschlichkeit der Kniffe und Täuschungen zu unterscheiden weiß. Seine Aufrichtigkeit entspringt also nicht irgendwelchen Geboten der Moral, sondern dem Wesen der künstlerischen Arbeit. Er hat eine Abneigung gegenüber dem Naturalismus, da er in der Oberflächlichkeit der photographischen Abbildung die Falschheit wittert: eine beruhigende Übereinstimmung mit dem Beiwerk, die Unterschlagung der Substanz. Auch dieser Standort entspricht mehr dem Charakter der Theaterpraxis als einem gekünstelt runden ästhetischen Programm. Er ist ein Gegner der Verspieltheit, da er das Spiel über alles schätzt, und dieses ist Wirklichkeit auf Widerruf, ist kultische Imitation des Todeskampfes.

Er betrachtet das Theater als eine Stätte des Konsums, doch deutet er dieses Wort als Chiffre für den Austausch von geistigen Werten oder geistigen Wertlosigkeiten. Diese Art von Konsum ist lebenswichtig. Indem der Zuschauer die Bühnenvision in sich aufnimmt, wird er der eigenen animalischen, morbiden Dumpfheit entfremdet: in der Verzauberung des Mitlachens und Mitleidens, in einer intensiven Identifikation mit sich selbst nimmt er die eigene, aus Gleichmut sorglos vergeudete Biographie wieder in Besitz. Doch ist der Schauspieler an diesem Prozeß des Erkennens als Konsument nicht weniger beteiligt. Erst die Anwesenheit des Publikums befreit ihn vom Gefühl, immerfort in einen imaginären Spiegel schauen und demgemäß unentwegt törichte, gekünstelte, verkrampft steife Fratzen schneiden zu müssen. Allein das Publikum bewegt den Schauspieler zur Gewährung seiner paradoxen Chance: sich gerade durch Gestaltung eines fremden Wesens mit sich selbst zu identifizieren. Da nun Wochinz diese Wechselwirkung durchschaut, ist er in der Lage, selbst im ausgelassensten Spiel die Balance zu wahren.

Er unterscheidet zwischen Idee und Ideologie. Diese ist für ihn ein allzu rundes und also wirklichkeitsfremdes, ein formal perfektes und also der Kunst e o ipso fremdes Gebilde; jene empfindet er als ein Produkt erarbeiteter Inspiration, als die Möglichkeit einer Erkenntnis. Deshalb spielt er politisches Theater im wahrsten Sinn des Wortes po 11 tik6n : „den Bürger, die Bürgerschaft betreffend“; ein Theater, das hier und jetzt die Allgemeinheit zu berühren vermag, und zwar nicht durch die erbärmlichen Halbwahrheiten zündender Parolen, sondern durch die intensive Gestaltung des menschlich Profunden.

Hier und jetzt, das heißt im Theater vor allem: Klarheit zu gewinnen über die zur Verfügung stehenden Kräfte, über die eigene Kraft, über die Möglichkeit des Dialogs zwischen Publikum und Ensemble, um dann durch Konzentration und Ökonomie der Mittel, durch Strenge und Überschwang, durch eine geradezu charismatische Ausstrahlungsfähigkeit allabendlich das Unmögliche zu versuchen; in lustvoller Freiheit der Improvisation etwas Geformtes zu schaffen. Hier und jetzt, das heißt aber auch: auf der Höhe der Erkenntnisse der Zeit und mit der Gefühlswelt der Epoche in Einklang zu sein, ohne Rücksicht auf rudimentäre, jedoch immer noch virulente Reste längst überwundener Bewußtseinsformen, und ohne Respekt vor jenem Teil der allerneuesten Erscheinungen, die nichts anderes zu bieten haben als ihre Neuheit.

In diesem Sinne ist Wochinz ein Mann des hic et nunc. Doch scheint er die Gebundenheit an Ort und Zeit zu überwinden, indem er sie mißt, analysiert, begreift, erspürt, indem er sich mit den Gegebenheiten so weit zu identifizieren vermag, daß diese in die Einheit seines Formwillens integriert werden können. Nach seiner Rückkehr aus Paris als Schüler von Marcel Marceau, im Umgang mit Ionesco, mit Samuel Beckett gereift, gründete Wochinz in Wien sein Theater am Fleischmarkt; seit fünfzehn Jahren leitet er das Ensemble der Komödianten auf Schloß Porcia; seit sieben Jahren ist er Intendant des Stadttheaters in Klagenfurt. Jede dieser künstlerischen Werkstätten hatte und hat ihren eigenen Charakter, und doch sind sie miteinander verbunden durch Geist und Form eines ganz bestimmten Stils. Für diese Einheitlichkeit in der Vielfalt kann es keine andere Erklärung geben als Wochinz's Festigkeit in der Zielsetzimg und, in der Methodik, seine bei aller Flexibilität der Mittel beinahe halsstarrige Beharrlichkeit, seine unbeirrbare, eigensinnige, verwegene Treue zur Vision zeitgemäßen Theaterspiels.

Während viele treffliche Künstle*, deutschsprachiger Bühnen entweder in der kurzen, nicht einmal hundertfünzig Jahre währenden Epoche des immer noch zuweilen glanzvollen Naturalismus verharren, während andere nun, nach dem Ende des naturalistischen Theaters, ihre Ratlosigkeit und Verwirrung in Form von gekünstelter Triebhaftigkeit oder in der verkrampften Einfalt der politischen Agitation zu artikulieren suchen — also inmitten falscher Idyllen und verlogener Maßlosigkeit — arbeitet Wochinz mit fröhlicher Vitalität und heiterer Strenge an seinem eigenen Theaterstil: an einer Form, die Feuer und Eis vereint: die Lust am entfesselten Spiel mit der Lust an der geradezu mathematisch berechnenden Bewußtheit.

Er will das Spektakel und will zugleich im Spektakel die verborgene Struktur begreifen, begreifbar machen, wie Giorgio Strehler. Er will das unvergleichliche Abenteuer, gestützt auf unvergleichliche Leistungen der Analyse, wie die Astronauten. Die zentralen Strömungen einer Epoche sind daran zu erkennen, daß sie in verschiedenen Ländern gleichzeitig emporbrechen und sich in Menschen manifestieren, die einander nicht kennen und doch gleichzeitig das gleiche formulieren. In einer Zeit der bedeutsamen Philosophen des Strukturalismus in Frankreich ist Wochinz ein Strukturalist des deutschsprachigen Theaters.

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