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Wunder von Polen mit Fragezeichen
Die Abkommen der Streikführer von Danzig und Stettin mit Regierung und Zentralkomitee der polnischen KP sindein politisches Wunder. Und wenn sie die Madonna von Tschenstochau nicht auch zu dem ihren macht, wird sich dieses Wunder nicht halten. Nichts spricht dafür, daß die unkritische Euphorie vieler westlicher Massenmedien begründet ist.
Was hat man ausgehandelt? Daß „neue, selbstverwaltete Gewerkschaften" gegründet werden und zu den bestehenden in Konkurrenz treten können; daß politische Häftlinge freigelassen werden; daß die Arbeiter ein Recht auf wirtschaftliche Streiks erhalten sollen.
Das alles ist eine Sensation, die es bisher im kommunistischen Machtbereich nie irgendwo gegeben hat - und die es auch nicht geben kann, wenn sich das Regime nicht selbst in Frage stellen will.
Gleichzeitig freilich haben die Streikenden „die polnische Verfassung", also den absoluten und totalen Vorrang der Partei vor Staat und Gesellschaft, anerkannt. Es ist unmöglich, das eine mit dem anderen zu kombinieren und beides gleichzeitig zu haben.
Deshalb kann man eigentlich nur an eine einzige Alternative glauben: Entweder Moskau bereitet in Kürze dem ganzen Spuk ein Ende - oder es zwingt die Machthaber in Warschau, bei der Ausarbeitung konkreter Durchführungsmaßnahmen in den nächsten Wochen und Monaten die entscheidenden Zugeständnisse Stück Tür Stück durch entsprechende „Interpretationen" zurückzunehmen.
Sicher wäre den Sowjets der zweite, weniger spektakuläre Weg lieber als der mit einem notfalls militärischen Machtwort zu entscheidende Konflikt. Aber sie sind wohl auch zu diesem bereit, wenn anders ein Ubergreifen des „Wunders von Polen" auf andere kommunistische Länder nicht verhindert werden kann.
Es kann aber nicht verhindert werden, daß auch DDR-Deutsche und Ungarn, CSSR-Arbeiter, Bulgaren und Rumänen Streikrecht, unabhängige Gewerkschaften und Zensureinschränkung fordern - wenn nicht heute, dann morgen, aber demnächst sicher!
Vorläufig freilich spricht einiges dafür, daß die Machthaber in Polen entweder, weil sie die Konzessionen nie ernst gemeint haben oder weil der Kreml sie dazu zwingt, in zähen Detailverhandlungen die Zugeständnisse wieder kassieren werden.
Darauf deuten schon gewisse Kautschukformulierungen hin. Die angebliche Zensuraufhebung wurde den Dan-zigern mit der höchst unverbindlichen Formel, für „arbeitende Menschen" sollten „angemessene Möglichkeiten der Kontrolle sowie des Ausdrucks ihrer Auffassungen" geschaffen werden, zugesagt.
Mit „Freilassung politischer Häftlinge" meint die Regierung offenbar nur verhaftete Streikende - nicht die Dissidenten. „Mitsprache bei der Wirtschaftsplanung" hat man nur in Danzig, bessere Zugänge der Kirche zu den Massenmedien nur in Stettin versprochen. Das alles soll man ernstnehmen?
„Ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück" hieß eine der Schriften, in denen Lenin die Taktik der Partei erläuterte. Die Tragödie der polnischen Arbeiter steht ihnen und uns wohl erst bevor.
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