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Zeit der Gnade
Ein vielhundertjähriges Altarwerk wirkt als Aufforderung, sich auch heute der „Zeit der Gnade“ würdig zu erweisen. In diesem Jahr wird das 8OO-Jahr- Jubiläum der Vollendung des Verduner Altares in Klosterneuburg gefeiert - Anlaß, auch der Bedeutung des Stiftes Klosterneuburg in der Kirchengeschichte und in der politischen Entwicklung des Landes wie in unserer Zeit zu gedenken.
Das in seiner Pracht und in seinem Prunk zur höheren Ehre Gottes errichtete Kunstwerk - „glaubte man doch, die sichtbare Schönheit wertvollen Materials sei ein Abglanz der unsichtbaren Schönheit Gottes und man könne somit durch mystische Versenkung in das Sichtbare zu den verborgenen unsichtbaren Wahrheiten gelangen“ heißt es in dem eben erschienenen reich bebilderten wissenschaftlichen Werk des Kunsthistorikers Buschhausen, kommt in der farbigen Leuchtkraft seiner Emailplatten in eben diesem Buch besser zur Geltung, als im Original in der düsteren Leopoldskapelle.
In der Blütezeit der Scholastik konzipiert, und zwar in dem als Hochburg des Traditionalismus geltenden Klosterneuburg, und somit auch auf Seite des Papstes stehend, hatte dieses religiöse Kunstwerk auch eine programmatische Funktion in den Auseinandersetzungen mit dem fortschrittlicheren und kaisertreuen Wien zu erfüllen. Hatte Wien dem Stift Klosterneuburg auch den politischen Rang abgelaufen, so mußte dies durch bewußte Traditionsbildung und Errichtung dieses überwältigenden kirchlichen Kunstschatzes wieder wettgemacht werden.
Neben der rein ästhetischen Faszination, die dieses sakrale Monument ausübt, ist es vor allem sein ikonographi- sches Programm, das höchste Bewunderung vor der Gelehrsamkeit, der Frömmigkeit und der fast göttlich inspirierten Kompositionsgabe seines Schöpfers abverlangt. Der ikonogra- phische Aufbau des Verduner Altars entspricht der typologischen Zeitentrias, das heißt es sind zwei alttesta- mentliche Ereignisse, und zwar ein Geschehnis ante legem - vor der Übergabe der Gesetzestafeln an Moses - und eines sub lege - nach der Gesetzesübergabe-dem neutestamentlichen Heilsgeschehen, Szenen aus dem Leben Christi - sub gratia - vertikal zugeordnet; dabei nehmen die Bilder aus dem tempus sub gratia die zentrale Stelle zwischen den alttestamentlichen ein, ist doch das ganze geistige Programm dieses Kunstwerks auf den Glauben der Erfüllung des Alten Testaments im Neuen aufgebaut.
Der Autor des vorliegenden Buches „Der Verduner Altar“, Helmut Buschhausen, Professor an der Wiener Universität am Institut für Kunstgeschichte und am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, hat nun die Quellen und Vorbilder dieses wundersamen Bildprogramms, das durch alle Zeiten wie ein lebendiger Heilsspiegel wirkt, erforscht:
Die 45 Grubenschmelz-Emailtafeln des Meisters Nikolaus aus Verdun in Lothringen, ergänzt durch sechs weitere aus dem Jahr 1331, als man den Ambo in einen Flügelaltar umwandelte, sind in ihrer Gesamtheit in etwa zehnjähriger Arbeit in Kosterneuburg entstanden und in ihrem typologischen Programm von Propst Rudiger entworfen worden, wie Buschhausen aus der Kenntnis stilistisch verwandter Schriften des Propstes schloß.
Viel Ikonographisches ist maasländisch, also dem damaligen Zentrum der Goldschmiedekunst entstammend, vieles mußte jedoch auch von dem lothringischen Künstler hinzuerfunden werden.
Buschhausen hat mit allen Spekulationen in bezug auf die gotischen Ergänzungstafeln von 1331 endgültig aufgeräumt, sie eindeutig als Stilkopien der Tafeln von 1181 klassifiziert, nachdem er eine exakte Stilanalyse und
kunsthistorische Einordnung dieses größten mittelalterlichen Goldschmiedwerkes vorgenommen hatte: maasländisches und byzantinisches Formenvokabular, wie Sinn für Natur- und Realitätsschilderung der klassischen Antike flössen in den Grubenschmelzplatten des Meisters Nikolaus zusammen; das ganz eigene „Wirklichkeitsverständnis“ in den Emailtafeln postuliert Buschhausen aber als „zutiefst in der Person des Künstlers begründet.“
Wenn der Betrachter nie satt wird, dieses einmalige und wohl kostbarste Denkmal mittelalterlicher Kunst zu bestaunen, - sei es im Original in der Klosterneuburger Leopoldskapelle oder anhand der wunderbaren farbigen Abbildungen von Wladimir Narbutt-Lie- ven und Ingrid Schindler in diesem Prachtband, so wird er auch immer wieder die entsprechenden Stellen aus Altem und Neuem Testament dazulesen und sich wohl fragen, ob unsere Zeit denn noch immer „unter der Gnade“ stehe, hat es doch oft den Anschein, daß sie eine „post gratiam“ sei.
DER VERDUNER ALTAR. Das Emailwerk des Nikolaus von Verdun im Stift Klosterneuburg. Von Helmut Buschhausen. 160Seiten mit 52 ganzseitigen Einzeltafeln in Farbe, einer mehrseitigen Falttafel in Farbe und 70 Abb. Edition Tusch, Wien 1980, öS 1.600,-
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