6700227-1963_25_09.jpg
Digital In Arbeit

Die Wiener Biblia Pauperum

Werbung
Werbung
Werbung

Der Begriff „Biblia Pauperum“ ist dem kunstgeschichtlich interessierten Menschen schon lange geläufig. Es fragt sich nur, ob er darunter dasselbe versteht, was die Kunst- und Geistesgeschichte allein mit diesem Namen bezeichnet. Denn eine Folge von biblischen Darstellungen an den Wänden einer gotischen Kirche ist keine Biblia Pauperum. Auch das Fastentuch von Gurk ist keine Biblia Pauperum, ebensowenig wie die romanischen Skulpturen an der Kirche von Schön-grabern. Alle diese Kunstwerke sollten von Anfang an der Belehrung und Erbauung des christlichen Volkes dienen. Die Armen, die nicht lesen konnten,

hatten die Möglichkeit, mit Hilfe solcher Bilder die biblischen Ereignisse, von denen in den Evangelien und Lesungen des Gottesdienstes berichtet wurde, anschaulich betrachten zu können. Aber als „Armenbibeln“ wurden solche Bilder weder im Mittelalter noch später bezeichnet. Erst das späte 19. und das 20. Jahrhundert gaben in mißverstandener Deutung des einprägsamen Ausdruckes diesen Zyklen den Namen eines Werkes, das im 13. Jahrhundert entstanden ist und dann handschriftlich und in den ersten Zeiten des Buchdruckes auch im Blockdruck sehr oft reproduziert wurde.

Das wissenschaftliche Prinzip, auf dem das ganze Werk aufgebaut ist, ist die „Typologie“, die Verbindung einer Person oder eines Ereignisses aus dem Alten Testament als „Typus“, mit dem „Antitypus“, der Erfüllung des Vorbildes in der Person des Erlösers oder in einem Ereignis aus seinem Leben. Grundlage für eine solche ge-schichtstheoretische Deutung des Alten Testamentes sind Stellen im Evangelium und in den Apostelbriefen. Christus selbst weist auf das „Zeichen des Jonas“ hin als Vorbild für seine Auferstehung, auf die eherne Schlange als Vorbild für seine Erhöhung am Kreuze; bei Paulus erscheint Melchi-sedech als Vorbild des Hohenpriesters Christus, der erste Adam als Vorbild des zweiten Adam. Christus.

Die Kirchenväter haben dann diese Betrachtungsweise weiter ausgebaut und zahlreiche weitere Entsprechungen zwischen Altem und Neuem Bund gefunden, oft wohl auch erfunden. Schon vor der Entstehung der Biblia Pauperum als dem klassischen Abschlußwerk dieses theologischen Prinzips hat Nikolaus von Verdun im Jahre 1181 in der Ambonenverkleidung von Klosterneuburg eine „typologische“ Folge geschaffen, in der jeweils drei Bilder einander entsprachen: in der Mitte ein Ereignis ,,sub gratia“ — im Zeitalter der messianischen Gnade —, darüber das entsprechende Ereignis „ante legem“ — im Zeitalter vor der mosaischen Gesetzgebung —, darunter „sub lege“ — im Zeitalter der Geltung des mosaischen Gesetzes.

Ein Seitenstück

zu den Klosterneuburger Tafeln

Das Wiener Exemplar der Biblia Pauperum steht in direktem Zusammenhang mit dem Emailwerk von Klosterneuburg. Ihrer Komposition und Ikonographie nach gehört die jetzt in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrte Handschrift (Cod. Vindob, 1198) zur sogenannten „österreichischen Familie“ der in mehreren Varianten überlieferten Biblia-Pauperum-Handschriften. Sie zeigt enge Verwandtschaft mit einer um 1310 in St. Florian enstandenen Handschrift. Stilistisch hingegen ist sie um etwa 20 Jahre jünger.

Um 13 30 wurde Klosterneuburg durch einen Brand heimgesucht, bei

dem auch das Werk Nikolaus von Verduns beschädigt wurde. Bei den Wiederherstellungsarbeiten ließ Propst Stephan von Klosterneuburg die bisherige Ambonenverkleidung zu einem Flügelaltar umbauen und zu diesem Zweck um sechs Tafeln erweitern. Die Vorlage für diese sechs Tafeln war teilweise eine Armenbibel, ähnlich der von St. Florian. Da die Wiener Armenbibel nun stilistisch den Tafel-

bildern sehr nahesteht, die bei dieser Gelegenheit als Außenverkleidung des neuen Flügelaltares geschaffen wurden, liegt die Annahme nahe, daß man in Klosterneuburg die zum Zweck der Ergänzung des Emailwerkes entlehnte Biblia Pauperum kopieren ließ. Demnach fällt die Entstehungszeit der jetzigen Wiener Handschrift ungefähr mit der Vollendung des Klosterneuburger Flügelaltars um 1'331 zusammen.

Die Handschrift ist zwar in Text und Zeichnung vollendet, nicht aber in der Kolorierung. Nur die ersten sieben Seiten sind zur Gänze mit zarten Wasserfarben laviert; drei weitere Seiten sind teilweise koloriert, die restlichen überhaupt nicht. Warum

die farbige Ausstattung nicht vollendet wurde, kann man nicht einmal mehr vermuten. Der „halbfertige“ Zustand des Werkes erweckt die Illusion, als ob wir den Meister mitten in der Arbeit überrascht hätten. Die eigentliche künstlerische Substanz ist mit den Federzeichnungen gegeben, die mit dem Text zusammen ein Ganzes ergeben. Ebenso wie die einzelnen Teile der Bildergruppen klar

gegliedert sind, ist auch der Text übersichtlich verteilt; die Prophetensprüche und die Hexameter sind durch Rotschrift hervorgehoben. So entsteht ein Gesamtkunstwerk aus Bild und Schrift, wie es die mittelalterliche Buchmalerei nicht oft hervorgebracht hat. Denn in den weitaus meisten Fällen ist der Bilderschmuck der Handschriften etwas für; das. Wesea des Textes durchaus Entbehrliches, während hier das eine das andere bedingt.

Der Name des Künstlers ist unbekannt, und es lassen sich auch keine anderen Arbeiten von ihm mit Sicherheit nachweisen. Seine stilistischen Eigenheiten lassen sich gut in die niederösterreichische, näherhin in die Klosterneuburger Kunst um 13 30 einordnen, was auch durch den äußeren Zusammenhang mit der damaligen Restaurierung des Klosterneuburger Altars bestätigt wird. In manchen Einzelheiten aber ist er seinen Zeitgenossen voraus. Seine Figuren sind in Physiognomie und Gebärden nicht nach dem traditionellen Schema gebildet, sondern zeigen eine bis dahin ungewohnte Ausdruckskraft. In den Gesichtern zeigt sich, den jeweiligen Situationen entsprechend, die ganze Skala menschlicher Gefühle positiver und negativer Natur, wie sie nach außen in Erscheinung treten. Auch die Haltung der einzelnen Figuren, besonders die Gesten ihrer Hände mit den beweglichen Fingern, erzählt von ihrer inneren Stimmung. So ist die Wiener Biblia Pauperum, ein künstlerisches Seitenstück zu den berühmten „Klosterneuburger Tafeln“ auf der Rückseite des Verduner-Altars, ein ausgezeichnetes Beispiel der nieder-österreichsichen Buchmalerei an der Schwelle der Spätgotik.

Über die Geschichte der Wiener Handschrift ist nur sehr wenig bekannt. Sie war schon am Beginn des 17. Jahrhunderts in der kaiserlichen Hofbibliothek. Im Katalog, den der Hofbibliothekar Sebastian T e n g n a -gel (1608-1636) verfaßte, erscheint sie unter dem Titel „Testamenti veteris Historiae quaedam cum imagi-nibus ad Christum D. N. relatae et applicatae“ (einige alttestamentliche Geschichten, auf Christus, unseren Herrn, bezogen und angewendet) — also noch keine Spur vom Titel „Biblia Pauperum“. Ihr Erhaltungszustand ist ausgezeichnet; nur die Ränder sind etwas abgestoßen und das erste Blatt zeigt ein paar kleine Löcher. Sonst hat sich das Pergament unversehrt erhalten, und auch die Farben zeigen, soweit sie vom Künstler aufgetragen wurden, ihre ursprüngliche Frische.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung