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Mit neuen Augen erschaut

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„Wir haben mit der Gnade Gottes jenen Menschen, die nicht lesen können, die Wunder Gottes, die in der Tugend und Kraft des heiligen Glaubens geschehen sind, zu offenbaren.”

Aus dem Malerbuch von Siena, 1335.

Wir haben gelernt, mit neuen Augen zu schauen, die abgründigen Nöte der Zeit haben es uns in ihrer Läuterung gelehrt. Diese Erkenntnis begegnet uns auf allen Lebensgebieten, kaum aber anderswo tritt sie uns so klar entgegen wie in den geistigen Bezirken unseres Seins. Literatur und Musik sind vor allem davon berührt, am stärksten jedoch Malerei und bildende Kunst. Was lange unbedacht oder vergessen schien, ist uns heute zu neuentdecktem Besitz geworden und — was das Entscheidende ist — nicht nur zufällig und äußerlich, sondern innerlicHerlebt und aus tiefer Seele erkämpft. Insbesondere ist es das mittelalterliche Kunstschaffen, das uns gleichsam in neuem Licht ersteht, und man empfindet beglückt den reinen Ge:st, der aus den Werken dieser Epoche zu uns spricht und neue Sinndeutung gibt. Heute mehr denn je.

Mit solchem Gefühl empfängt man als kostbare Gabe eine in jeder Hinsicht höchst bedeutungsvolle Kunstmappe, die soeben vom Verlag Joh. Leon sen., Klagenfurt- Wien, herausgebracht wurde. In der Reihe von Meisterwerken der österreichischen Tafelmalerei, die im Vorjahr mit der „Beweinung Christi” des Meisters Thomas von Villach (Autor Walter Frodl) verheißungsvoll eröffnet wurde, ist nun hier die zweite Folge erschienen, die dem bedeutendsten Vertreter der niederösterreichisdien Heimatlandschaft, dem Meister Hans von Tübingen mit seiner Votivtafel von St. Lambrecht gewidmet ist. Otto Demus, als Kunsthistoriker bekannt und hochgeschätzt, hat hier mit feiner Einfühlungsgabe ein Hauptwerk mittelalterlicher Malerei in Österreich in das Licht künstlerischer Entdeckung und darüber hinaus in den Mittelpunkt geistiger Betrachtung für den Beschauer gerückt. In einer historischen Einleitung entwirft Demus in knappen Strichen ein anschauliches Charakterporträt Meister Hansens und führt dann in überzeugender Eindringlichkeit zum Verständnis des Werkes hin. Die tedinische Wiedergabe des Bildes selbst ist hervorragend. Die Mappe mit sechs großformatigen Abbildungen, die in Farbenlichtdruck bei Max Jaffe, Wien, hergestellt wurde, bietet sich so als eine drucktechnische Meisterleistung dar.

Das Gemälde, das unter dem Namen „Votivtafel von St. Lambrecht” berühmt geworden ist und jetzt als Leihgabe des Stiftes in der Landesbildergalerie des Joanneums in Graz hängt, stellt, wie heute mit überzeugender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, eines der Hauptwerke des Wiener-Neustädter Malers Hans von Tübingen dar. Der Meister dürfte in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts im württembergischen Tübingen geboren und später, nach einer Lehr- und Gesellenzeit im burgundischen Westen, in die Wiener Werkstatt des als „Meister der Anbetungen” bezei ebneten Malers eingetreten sein. Dann ließ er sich in Wiener Neustadt, der Residenz des Kaisers Friedrich III., nieder, von diesem selber geschätzt und beschäftigt, Haupt seiner Zunft und endlidi Genannter des Rats. Dort ist wohl in den späten zwanziger Jahren die für die Peterskirche von St. Lambrecht gemalte Votivtafel entstanden, eines der eigenartigsten Bilder jener Zeit.

Der Auftrag, den der Meister von den Stiftern erhielt — vermutlich waren dies der Abt Heinrich Moiker und der Prokurator Thomas Hofmann von Weitra des Stiftes St. Lambrecht — war eine Verherrlichung der Mariazeller Gnadenmutter in dem größten ihr zugeschriebenen Wunder, der Reiterschlacht König Ludwigs von Ungarn gegen die Türken. Diesem für jene Zeit hochbedeutsamen Ereignis in seiner religiösen und historischen Größe die letzte künstlerische Weihe zu geben, war eine schwierige Aufgabe. Himmlisches und Irdi- sdtes mußten hier zu einer gläubigen Einheit verbunden werden, und dieses visionäre Thema ist dem Mater, aus dessen Gesamtwerk ein ernstes, starkes und schwerblütiges Naturell spricht, mit einer wunderbaren Kraft des Herzens gelungen.

Der Gegenstand der Tafel, die Erscheinung der Madonna einerseits und andererseits der durch ihr Eingreifen erkämpfte wunderbare Sieg, legte eine Zweiteilung der Komposition zwingend nahe. Hans von Tübingen erzählt hier wie auf einem bunten Bildteppich, Gruppe um Gruppe im lebhaften Auf und Ab lebendig aufgebaut. Beherrschend tritt links die Gestalt der Gottesmutter hervor, unter deren Schutzmantel geistliche und weltliche Würdenträger betend knien, während mehr der Mitte des Bildes zu, eine Burg über dem Haupt, eine Heilige sich ihr schutzflehend zuneigt. Obwohl die Identität dieser Gestalt bisher nicht sicher festgestellt werden konnte, muß sie doch in historische, vermutlich verwandtschaftliche Beziehung zur rechtsseitigen Gruppe des Bildes gebracht werden. Diese stellt die Reiterschlacht selbst dar, die Ludwig der Große gegen die Türken lieferte. Ritterlich wie St. Georg, wirkt die Erscheinung des Königs, der an der Spitze seines Heeres ficht. Mit {zackender Anschaulichkeit ist der Angriff der Ungarn dargestellt, eindringlich realistisch wirkt die Kampfszene mit Niederlage und Flucht der Feinde, voll von Krassem und mit turbulenter Heftigkeit. In fast burlesker Sdiredchaftigkeit schließlidi ein grauses Nachspiel: die Leichenfledderer, die sich um Beutegut in die Haare fahren und ihren niedrigen Raufhandel austragen. Trotz aller Realistik aber, die bisweisen den Rahmen zu sprengen scheint, ist der Ausdruck des Wunderbaren, der den Anlaß des Bildes gab, restlos gewahrt. Von dem dunklen Hintergrund mit dem mystischen Sternengefunkel, fällt ein unsichtbares Licht, alles Irdische überstrahlend, sieghaft über die heilige Fürbirterin. Vom Schlachtengetümmel der Welt zum gläubigen Erheben der Herzen: hier spricht die ganze Seele des deutschen Mittelalters. Und man ist bisher an Kunstwerken, die solche Erkenntnis schenken, mit geschlossenen Augen vorbeigegangen!

Heute aber, in der chaotischen Zeit, die uns umbrandet, erhebt sich die Betrachtung der Gemälde dieser alten Meister zu vertiefter, symbolischer Deutung. Die Ausgabe des Vorjahres mit der „Beweinung Christi” des Thomas von Villach war Gleichnis der Trauer, in der die Menschheit so schmerzhaft versenkt ist. Solange aber der Aufschwung der Seele himmelwärts strebt, so lange rauscht immer noch der Flügelschlag der Rettung über uns. Diesem Glauben gibt nun Hans von Tübingen in seinem Votivbild von St. Lambrecht einen starken männlichen Ausdruck, der auch für unsere Zeit Vorbild sein kann. Nichts Weichliches und wehmütig Rührendes ist darin, aber Mut, Kraft und Gottvertrauen, und der Abglanz aller ritterlichen Tugenden sdteint über der Verklärung der Mariazeller Muttergottes mit ausgebreitet. In ergriffener Versunkenheit nimmt man, nach der ersten Gesamtbetrachtung der Tafel, die Detailabbildungen zur Hand, die alle Einzelheiten noch eindrucksvoller nahebringen. Alles ist, trotz seinem historischen Gewand, doch ein Wiederfinden mit unserer Zeit: die Männer, die sich dem Ansturm der drohenden Vernichtung entgegenwerfen, die Feinde, die das Land bedrängen, die Räuber, die sich an der Not der Zeit bereichern —, sie alle leben auch in unseren Tagen! Vor dieser wildbewegten Welt der Männer breitet die kniende Frau die Hände aus: und hören wir täglich nicht auch diesen Hilferuf aus unserer Mitte? Mit angehaltenem Atem glaubt man wie in ein Spiegelbild der Gegenwart zu schauen.

Dieser anstürmenden, kämpfenden und verzweifelnden Welt gegenüber eröffnet sich nun die lichte Erscheinung des Himmels. Die Mariazeller Muttergottes ist uns zur österreidiischen Madonna geworden, zur Magna Mater Austriae. So hat es der Maler durch seine Kunst empfunden und dargestellt, so fühlen wir es heute, über fünf Jahrhunderte hinweg, nach. Diese Betrachtung, diese Meditatio religiosa et histo- rica, ist das Beglückende, das man aus der Wiedererweckung der St.-Lambrechter Votivtafel empfängt.

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