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Der Verduner Altar — lebendige Kunst!

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„Für die österreichische Kunstgeschichte ist Klostemeuburg schon längst ein Begriff, für die Kunstentwicklung aber ein typisches Beispiel geworden“ (O. Ludwig). Unter dem reichen Kunstbesitz des Stiftes ragt zweifelsohne jenes Werk hervor, das mit der Bezeichnung „Verduner Altar“ Weltberühmtheit erlangt hat. Es war ursprünglich als Verkleidung des mit dem Ambo (Kanzel) verbundenen Lettners (Chorschranken) gedacht. Die Widmungsinschrift nennt als den Schöpfer des unübertroffenen Werkes Nicolaus Virdunensis-Nikolaus von Verdun. Im Auftrag des Propstes Wernher, in der Glanzzeit theologischen, literarischen und künstlerischen Schaffens des Stiftes, 1181, schuf der um 1130 in Verdun, das bis 15 51 zum Deutschen Reiche gehörte, geborene Künstler das unbestritten größte Kunstwerk dieser Art. Der Goldschmied und Meister der Schmelzkunst, Nikolaus von Verdun, steht als Einzelgänger in der Kunstgeschichte da. Neben dem Verduner Altar ist noch von seiner Hand der herrliche Marienschrein von Tournai aus dem lahre 1205 als sicher überliefert, während seine Mitarbeit am berühmten Dreikönigsschrein zu Köln, 1180 bis 1230 entstanden, sehr wahrscheinlich ist. Das ursprüngliche Werk, in der Form eines „Altars mit Ambon-ziborium“, hatte sechs Tafeln, das heißt um zwei Bildreihen weniger als heute. Am 14. September 1330 wäre das kostbare Tafelwerk einem verheerenden Brande, der in der Stadt Klostemeuburg ausbrach und das Stift in Asche legte, zum Opfer gefallen, hätte man nicht in knapper Not die Tafeln mit Wein Übergossen. Unter Propst Stephan von Sierndorf wurde das Kloster neu und glänzend aufgebaut, die Tafeln in Wien zu einem Flügelaltar umgebaut, wobei sechs neue Tafeln, um den Altar schließen zu können, hinzugefügt wurden. Seit 1331 ist das umgebaute Tafelwerk des Verduner Meisters ein Flügelaltar, der in der Stiftskirche vor dem Lettner als Volksaltar bis 1589 stand, einem neuen Altar weichen mußte und in die Apsis als „Hochaltar“ zu itehen kam. Nach einer Restaurierung, 1655, mußte er schließlich dem neuen barocken Hochaltar von Matthias Steinl, 1714, weichen, fand eine Zeitlang in der ehemaligen Aegydiuskapelle Aufstellung, bis er in die Schränke der Schatzkammer wanderte. Erst 1833 wurde nach neuerlicher Restaurierung das alte Tafelwerk aus dem „Dornröschenschlaf“ erweckt; im ehemaligen Kapitelsaal wiederum als Flügelaltar aufgestellt, bildeten die Tafeln den schönsten Schmuck am Grabe des heiligen Leopold. Ueber dem Retabel stellte man den Schrein mit den Reliquien des Heiligen. Es folgten mehrere Restaurierungen und Umbauten, Entfernung während des letzten Weltkrieges, bis schließlich 1951 das erneuerte Werk in der heutigen Leopoldskapelle aufgestellt wurde.

Nach einem prägnanten Abriß der äußeren Geschicke des Tafelwerkes behandelt der mit dein umfangreichen Stoff vertraute Verfasser die Frage nach seiner geistigen Herkunft: der Typologie, das ist jener Deutungsweise, die das Neue Testament durch das Alte erklärt, indem sie die Vorbildlichkeit der alttestamentlichen Personen, Handlungen, Ereignisse und Einrichtungen darstellt. Das großartige Programm fand der wandernde Künstler im Stifte selbst vor. Die gewaltige, die ganze Heilsgeschichte umfassende Konzeption verrät augustinischen Charakter (Gottesstaat). DeT Auftraggeber wollte eine heilsgeschichtliche „Summe“ im Bilde festhalten lassen. Die große Anschaulichkeit der Bilder machte das Tafelwerk der Künstlerpersönlichkeit von ungewöhnlichen technischen Qualitäten zu einem volkstümlichen Kunstwerk, das uns heute genau so lebendig anspricht wie die Menschen des 12. Jahrhunderts. Kein Wunder, wenn der große Begründer der „Volksliturgischen Bewegung“, Dr. Pius Parsch (1884 bis 1954), sein Programm vorgebildet sah an diesem Tafelwerk: die Botschaft der Gnade dem gläubigen Volke zum. Bewußtsein zu bringen. Dem Verfasser des vom Verlage äußerst geschmackvoll ausgestatteten Werkes gebührt inniger Dank dafür, den Verduner Altar nicht allein als künstlerisches oder historisches Denkmal bewertet zu haben, vielmehr seinen theologischen Sinn als ein Mittel der Seelsorge aus klösterlichem Geiste gewürdigt zu haben. Die ausgezeichnet gelungenen Abbildungen von Karl Koster (Wien), Abbildung 1 bis 53, und von Elisabeth Schwenk (Wien), Abbildung 54 bis 57, erleichtern das Studium dieses einzigartigen Kunstwerkes, dessen Monographie alle Kunstfreunde freudigst begrüßen.

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