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Zum Staunen und Erschrecken

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Wir haben unendlich weite neue Gebieie erobert, jetzt müssen wir uns für 200 Jahre Zeit nehmen, sie zu bebauen, meinte einmal der berühmte französische Komponist und Theoretiker Olivier Messiaen. Eine Ansicht, der heute immer mehr Komponisten zuneigen, jedenfalls alle, die erkannt haben, daß der Rausch, immer neue Wege zu suchen, neue Mittel und Techniken zu erschließen, neue Formen und Klänge zu benützen, allmählich verrauchen muß. Ein Wahn nach dem Neuen, der in die Stagnation führen muß, oder konsequentes Aufarbeiten heißt für viele die neue Alternative.

So auch für den bekannten jugoslawischen Komponisten Milko Kelemen, der für Vorträge und ein Konzert für ein paar Tage nach Wien kam und über seine Arbeit sprach.

„Einen Weg zu finden, auf dem man die Methoden und Theorien der fünfziger und sechziger Jahre auswerten, vielleicht auch überwinden kann, etwa den überspitzten Intellektualismus der neuen Musik und die emotionelle Verarmung der Boulez- und Xenakis-Nachfolger“, das nennt Kelemen das Ziel. Aber wie?

Kelemen, seit vielen Jahren Organisator der renommierten Zagreber Avantgardebiennale (heuer vom 12. bis zum 20. Mai), führender, auch im Ausland vielgefragter Komponist Jugoslawiens und nun Professor an der Stuttgarter Musikhochschule,setzt vor allem schon bei den Studenten an: „Man muß den Kompositionsstudenten ihren Minderwertigkeitskomplex nehmen... Wenn sie sich an den Meisterwerken des 20. Jahrhunderts zu orientieren versuchen, beginnen sie diesen oder jenen Stil zu imitieren, kommen anfangs nicht dazu, ihre eigenen Ideen zu entwickeln. Natürlich muß jeder wissen, welche Techniken es gibt, wie dieser oder jener Komponist bestimmte musikalische Probleme gelöst hat. Aber ein junger Komponist soll doch vor allem seine Individualität entwickeln ... Also versuche ich, als Lehrer mit meinen Vorstellungen zurückzutreten; als Pädagoge existiere ich gar nicht. Das Wichtigste ist mir, daß jeder möglichst oft hört, was er schreibt, daß er weitergereicht wird, sich allmählich entfalten kann. Das ist für den Anfang das beste!“

Mehr Probleme hat Kelemen hingegen mit seinem Zagreber Avantgardefestival; Probleme, die eigentlich die kritische Situation der neuen Musik überhaupt zeigen: „Nach dem Zweiten Weltkrieg war alles so einfach... Eine Periode ungeheurer Entdeckungen, jedes Werk brachte Neues: Boulez, Cage, Berio, Stockhausen, Pousseur... Und wir, die wir in Paris die Demokratie aus. nächster Nähe beschnüffelt hatten, konnten dann in Jugoslawien leicht gegen den sozialistischen Realismus auftrumpfen. Auch wenn die politisehen Schwierigkeiten manchmal enorm waren. Aber heute? Die Avantgardefestivals wirken ausnahmslos müde, reine Konzerte neuer Musik etwas abgestanden. Da noch interessante Programme, Sensation machende Werke zu präsentieren, ist ungemein schwierig geworden!“

Als Komponist hat Kelemen dennoch immer wieder Aufsehen erregt, große Aufträge verbuchen können: Für Japans NHK, für Rias-Berlin, Royan ... Und Aufführungen seiner Werke sind in Paris, Köln, Barcelona, Berlin eher häufig zu finden. Die umfangreichste Auftragsarbeit entsteht aber nun — ein szenisches Werk für die Deutsche Oper Berlin, nach „Der neue Mieter“ (mit Iones-co) und „Belagerungszustand“ (für Liebermann in Hamburg) seine dritte Oper, an der er mit dem spanischen Dramatiker Fernando Arrabal und dem deutschen Avantgarde-Lichtkünstler Otto Piene arbeitet. Titel: „Opera bestiale“; dazu Kelemen: „Eine Monstershow über das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Tier, mit Maschinen, babylonischen Turmbauten, acht Meter hohen, aufblasbaren Puppen, Feuer und Wasser, Schaumwogen auf der Bühne... Ein Stück zum Schauen, Hineinhören in die Welt.der Geräusche, Staunen und Erschrecken, was zu den Grundfunktionen des Theaters gehört.“ Karlheinz Roschitz

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