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Von der Gralsburg zum Höhensanatorium

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Thomas Mann hat nicht nur einen „Dr. Fau-stus“ geschrieben, sondern auch seinen Par-sifal: Hans Castorp im „Zauberberg“. Es mag gewagt erscheinen, einen solchen Vergleich zu ziehen, doch Thomas Mann inspiriert ihn selbst, wenn er in seiner, der Neuausgabe beigefügten Vorrede den Helden ausdrücklich zum Gralssucher stempelt. Diesen Vergleich einmal auszuführen und durchzudenken, ist jedoch ohne Zweifel fruchtbar für eine heilsame Besinnung: die große Linie von Wolfram von Eschenbach über Goethe zu Thomas Mann, „Parsifal“ — „Wilhelm Meister“ — „Zauberberg“, so gibt sie in jener besagten Vorrede der Autor selbst an. Der Weg dieser Linie führt tatsächlich, wie die dem geneigten Leser jetzt hoffentlich weniger frivol erscheinende Überschrift sagt, von der Gralsburg zum Höhensanatorium.

„Idealismus ist schöpferische Hysterie“ (934), das also ist des Pudels Kern, das heißt Parsifals. Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung, Gott sei Dank, also, daß wir diesem Parsifal, der so lange schon im deutschen Wesen sein Unwesen treibt, endlich auf die Spur gekommen sind. Doch wenn wir jetzt ernstlich diese Spur aufnehmen, wird unsere freudige Erregung ob dieser genialen Erkenntnis leider etwas abgekühlt, denn was wir vorfinden, ist gar nicht mehr Parsifal, sondern Hans Castorp, eine spezifische Gestalt Thomas Manns, die sich zwar angeblich mit Parsifalschen Irrungen und Wirrungen herumschlägt, dabei aber nicht merkt, daß sie Luftstreiche führt, das mit Parsifal ebensoviel gemeinsam hat wie ein Sanatorium mit der Gralsburg und wie Parsifals Gralsszene mit jener im Sanatorium, in der die kranke Hujus, als sie des Allerheiligsten ansichtig wird, mit Kreischen und Strampeln, „mit Ah und Huh“ unter die Bettdecke kriecht. Fatales Mißverständnis oder Ironie des Schicksals.

„Der Zauberberg“, wie überhaupt das Werk von Thomas Mann, zeigt nämlich gerade jene Endsituation, in die abendländische Geistigkeit, oder besser gesagt, jener Teil der abendländischen Geistigkeit geraten ist, der den Parsifal unter der Parole „Humanismus“ aufgegeben hat. Nicht umsonst wird Thomas Mann als Vertreter des heutigen dritten Humanismus besonders genannt. Das also die „Geschichte“ — von Thomas Mann allerdings als erzählenswert bezeichnet — Hans Castorps.

Was ein aufklärerischer Humanismus mit Parsifal tun wollte, das heißt mit der Tradition christlicher Metaphysik, das versucht Thomas Mann ebenso zu tun oder wenigstens weist er dieses Tun in seinem Werke auf. Was aber aufgewiesen wird, ist die Selbstzersetzung, eines Humanismus, der die Transzendenz, seine metaphysischen Grundlagen aufgegeben hat, welchem nur noch, im literarischen wie im kulturellen Raum, eine Apokalypse folgen kann und tatsächlich auch schon gefolgt ist, wofür schließlich Thomas Mann selbst ein Symptom darstellt. Nur scheint er es nicht zu merken, daß er seinen eigenen Humanismus, der in seinen Romanen, mehr noch in seinen Reden unermüdlich zur Sprache gebracht wird, mit seinem eigenen „Werk“ richtet (das Wort „Dichtung“ wird absichtlich vermieden). Das bestätigt er, ohne es zu wissen, nur zu wahr in einem Ausspruch jener Vorrede: „,Der Zauberberg' hat es in sich und denkt über sich ganz anders als ich... denn es ist ein Irrtum, zu glauben, der Autor selbst sei der beste Kenner und Kommentator seines eigenen Werkes“ (wozu dann also die eingangs erwähnten Ausführungen über sein Werk, wenn er selbst zugibt, daß sie nicht ernst zu nehmen sind?).

Der „Zauberberg“ zeigt typisch was übrigbleibt, wenn man eine „Welt ohne Transzendenz“ (Holthusen), ohne die Welt Parsifals also, aufzubauen sucht. Wie ein Leib, der seine Seele verloren hat, sich selbst zersetzt, so auch hier: alles Metaphysische und Geistige, das doch Grund und Halt, die Seele von allem ist, wird positivistisch in Psychologie, Medizin, Physik usw. aufgelöst, als Metaphysikersatz spielt dann gewöhnlich noch der Okkultismus eine Rolle (Zauberberg), soweit sie nicht selbst auch schon von der Zersetzung angegriffen sind, was ja Thomas Mann mit seiner Pathologie, vor allem seinen Spott reichlich besorgt hat. Das Leben ist Oxydation, der humanistische Menschenleib ist Wasser, nichts Besseres und nichts Schlechteres, die

Trockensubstanz beträgt bloß 25 Prozent, die schöne Form entsteht durch Fettpolsterung (373). In einer raffinierten Psychoanalyse degradiert er so die Gralsburg zum Höhensanatorium, wo alles Außerordentliche, Nicht-Normale im Sinn von Nichtdurchschnittlichem, physiologische und psychologische Krankheitserscheinung ist, das Abenteuer des Lebens beschränkt sich, auf die Kur- und Tagesordnung, abenteuerlich gesteigert durch Hysterien, Komplexe, Nervenspuk einer sich übergenau kennenden Kommunität, das Erlebnis der Zeit geht auf in einer mehr oder weniger guten Technik, die Langeweile hinter sich zu bringen, damit sie „reine Zeit und sonst überhaupt nichts sei“ (383), darin wird dann, von der Unruhe des Krankseins bedroht, Sicherheit gesucht. Das ist wahrhaft „Dumpfsinn“. Er ist aber zustande gekommen, weil — wie Thomas Mann sagt — der Humanist, bei dem einzig und allein die Überlieferung von der Würde und Schönheit des Menschen ist, den Priester abgelöst hat, der sich in trüben und menschenfeindlichen Zeiten die Führung der Jugend anmaßen durfte (87). Und doch schiebt Thomas Mann seltsamerweise die angegebenen Zustände, für die der „Priester“ also gar nicht mehr verantwortlich ist, weil er abgelöst wurde, dem Priester, das heißt der christlichen Tradition und Geistigkeit zu, statt sie, was richtiger wäre, dem Humanisten anzurechnen. Ist das nicht auch „Dumpfsinn?“ Um jedoch diese seine etwas unlogischen Theorien wahrzumachen, tischt er tatsächlich die schon längst abgetanen Märchen, dazu noch in seiner typisch sarkastisch-ijonischen Extremisierung, von Juden, Freimaurern und Jesuiten auf, von spanisch-katholischem Inquisitionsterror und übergießt das alles mit einem unbestimmbaren, alles mit allem verwischenden Etwa3 von Philosophie, Theologie und Politik, durchsetzt von griechischen und ägyptischen geheimnisvollen Kult- und Mysterienworten, lateinischen Termini, spricht in souveränem Brustton von franziskanischer Mystik und thomistischer Erkenntnis, ignatianischen Exerzitien, als ob er ein gewiegter Kenner von allem wäre, jedoch mit dem Ton auf „als ob“. Diesen qualvollen „operationes spirituales“ einer allzu redseligen Halbbildung und Viel-wisserei wird dann noch die Krone aufgesetzt mit jenem phantastischen Duell und Selbstmord Leo Naphtas, des Juden und Jesuiten, dem wohl nur geistig absolut Minderbegabte irgendeine auch nur entfernte Wirklichkeitsbedeutung beizumessen in Versuchung kommen können. Gott sei Dank, daß Thomas Mann alles mit beißendem Spott und ebensolcher Ironie darstellt, wodurch er höchstwahrscheinlich diese zweifelhaften, mitunter beachtenwert sinnigen Produkte seiner Phantasie lächerlich machen will und es uns wohl nicht übelnehmen wird, wenn wir sie auch so auffassen.

Es ist natürlich klar, daß im Mittelpunkt dieser „Seelenzergliederungen“ das obligate Thema von Krankheit und Genie, Liebe und Tod zu stehen kommt, in ebenso schönklingenden wie vagen Formulierungen, über deren Tiefsinn man sich vergeblich den Kopf zerbricht. Es sei nur bemerkt, daß darin mehr als peinliche Grade von Erotik und Pornographie erreicht werden, denen sogar noch „Freiheit und Genie“ zuerkannt wird, die in der Gestalt Peeperkorns und in jenem widerlichen Bekenntnis Wehsais bis zur Blasphemie, im eigentlichen Sinn des Wortes, heranreichen (878). Dabei wird das „Entscheidende“, um das Ohr des Lesers zu schonen, französisch gesprochen, weil sich diese Dinge in einer Fremdsprache deutlicher und zugleich weniger anstößig ausdrücken lassen, wie Thomas Mann selbst gesteht. Damit erreicht man dann die Höhen und Tiefen der Kunst und des Lebens, allerdings — aber jener Kunst und jenes Lebens, die Thomas Mann als „zur Wollust erstarrte Substanz“, als die „unzüchtige Form des Seins“ bezeichnet.

Am Schluß, nachdem man sich mit viel Geduld durchgebissen hat, fragt man sich, wozu dieser Aufwand von tausend Seiten? Liest man noch, wie Thomas Mann um das Wort, die literarische Form bemüht ist, und am „Zauberberg“ zehn Jahre gearbeitet hat, so fragt man sich mit Recht, ob nicht all diese Arbeit an der Form, die zweifelsohne anzuerkennen ist, durch den Inhalt nicht wieder in Frage gestellt ist. Können wir heute noch mit gutem Gewissen unsere Talente und Kräfte für so etwas aufwenden? Oder meint Thomas Mann, mit Kritik und Ironie ließe sich Positives schaffen? Das also ist der „Zauberberg“.

Um Seelengliederung eines Parsifal geht es somit, der gar nicht mehr Parsifal ist, also mit Recht und Folgerichtigkeit in einem Sanatorium landet, wo er auch hingehört. Der eigentliche Geist Parsifals vermochte nie ausgelöscht werden, er wirkt auch heute noch in unsern besten Künstlern und hat sich damit als stärker erwiesen denn aller „Humanismus“. — „Das mit der Seelenzergliederung war etwas zu stark“, läßt Thomas Mann gleich zu Beginn seinen Helden, als er des Sanatoriums ansichtig wird, sagen, ihm wollen wir uns anschließen, „das hätte nicht kommen dürfen.“

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