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Ein französisches Buch über Thomas Mann

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Thomas Mann. Von Louis Leibrich. Classiques du XX Siede Editions Universitaires, Paris. 140 Seiten.

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Thomas Mann. Von Louis Leibrich. Classiques du XX Siede Editions Universitaires, Paris. 140 Seiten.

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Thomas Mann hat von jeher die französischen Kritiker fasziniert. Sie empfanden ihn zugleich als geistig verwandten Verstandesmenschen, als Klassiker, dem Maß und Wert das Gesetz schrieben, und als in seiner Gegensätzlichkeit anziehenden Romantiker, der den Typus des idealen, vor- bismarckschen Deutschen aufs glänzendste verkörperte. Und in der Tat ist der große Erzähler von Vaterseite her mit urgermanischem Erbe, doch durch die Mutter mit dem Vermächtnis romanischer Ahnen bedacht. Beide Wesenselemente koexistieren in ihm, je nach den Epochen seines Schaffens, in voneinander abweichender Dosierung Das mehr noch erfühlen zu machen denn mit Pedanterie systematisch zu zeigen, ist einer der Hauptvorzüge dieses, ungeachtet seines geringen Umfangs, tief in Thomas Manns Wesen und Werk eindringenden Buches. Es hat auch nach den vorangegangenen Gesamtdarstellungen von Ferdinand Lion, Georg v. Lukäcs, Hans Mayer, Henry Hatfield, Jonas Lesser und Hans Eichner Belang. Ja, vielleicht sind es Leibrich, sein Kollege Sagave und die ausgezeichnete Germanistin Genevieve Bianquis, die bisher das über einen Geisteshelden Gültigste ausgesagt haben, dessen Charakterbild in der Geschichte noch mehr als in der Literaturgeschichte schwankt und dessen Vielfalt nicht nur die Einfältigen aufgereizt hat.

Bei aller Bewunderung für seinen Autor hat der französische Kritiker keinen bloßen panegyrischen Hymnus verfaßt. Er birgt das Entscheidende, das wir gegen den Denker einwenden müssen, in Sätzen von der „position ėminemment pėrilleuse que celle de Thomas Mann", welche „überaus gefährliche Lage“, wie bei Malraux und Camus, uns „ständig entlang die Grenze des Nihilismus" führt: die zu überschreiten aber diese antifaschistischen Bekenner des „vivere pericolosamente" durch ihren Sinn für die wahren Bedürfnisse des Menschen verhindert werden, und zwar „zum Teil dank der alten humanistischen und christlichen Gesittung, deren Erben sie sind". „Ah, qu’en termes galants oh, wie zart und wie artig drückt Leibrich hier als behutsam eingeschränkte Tatsache aus, was er eigentlich als Postulat anmeldet und was den einzigen, freilich höchst wichtigen Vorbehalt gegen den philosophischen Gehalt des Mann’schen Schaffens ausdrückt.

Vor dem Dichter jedoch neigen wir uns alle ohne innere Hemmung. Leibrich weiß die schier unerschöpflichen Ausdrucksmöglichkeiten einet Erzählkunst darzulegen, die den heikelsten und, sagen wir es offen, die auch den widerwärtigsten Gegenstand mit Meisterschaft und mit Takt zu behandeln versteht. Er enthüllt uns nicht minder die Kunst des Publizisten und des Essayisten, der vorgestern links, gestern rechts und heute wieder links schreiben kann, ohne darum zum Schmock zu werden. Mit richtiger Intuition erkennt der . Franzose, daß jener mit Koketterie sich als unpolitischen Betrachter verkleidende Federkriegsfeldherr, der durchblicken lassen wollte, er sei auch zur politischen Führung berufen, im Grunde dennoch unpolitisch war und das geblieben ist; allen Rundfunkreden an die deutsche Nation, allen Ostfahrten und allem späteren West-Credo zum Trotz. Thomas Mann ist der Künstler in Reinkultur, in einer vor jedem barbarischen Schmutz zurückschreckenden, reinen Kultur. In Abwandlung der angeblichen letzten Worte Neros, dürfte der Autor des „Doktor Faustus“ von sich verkünden: „qualis artifex vivo", „welch ein Künstler lebt in mir!"

Die Werke dieses Artisten, der wie Cäsar über den Grammatikern, als Herrscher im Reiche des Geistes über den Katecheten steht, haben ihren letzten Ursprung in der Begegnung zwischen dem Willen zur Freude und zum Genuß einerseits, den ihn hindernden Bindungen und Gegebenheiten der Umwelt anderseits. Krankheit, Geldnöte, gesellschaftliche Schranken, Sexualethik stören eine Lust, die weniger ewig denn ununterbrochen und uneingeschränkt sein möchte. Am ärgsten aber ist, daß hinter den einander jagenden Augenblicken, die, sind sie schön, verweilen sollten, der unvermeidbare Ausklang droht: Tod und Vernichtung. So wird die Existenz ein Sein zum Tode und das „carpe diem" zum Wahlspruch des von hellen den dunklen Mächten zugehetzten Lebenskünstlers in seinem todgeweihten Künstlerleben. Die Berührung mit Heidegger und Jaspers, mit den französischen Existentialisten ist klar. Doch, was wiederum Leibrich vortrefflich erspäht, Thomas Mann neigt nicht zur echt nordischen Wikingerhaltung des dem Sterben entgegenjauchzenden Berserkers noch zum trüben Dahindämmern des Weltverneiners noch endlich zur Sartreschen „Nausee". Dem Dichter der „Buddenbrooks" behagt es ja gar nicht so schlecht in diesem irdischen Jammertal und er beschreitet also einen vierten Weg, man heiße dies den Pascalschen der denkwürdigen Wette (die hier allerdings nicht um die von Mann weder erwartete noch verleugnete künftige Seligkeit geht) oder den des Vaihingerschen Als Ob. Abgesehen von der kapitalen Schilderung der Mannschen Leitgedanken, die sich durch das gesamte Buch zieht, beschert uns Leibrich sehr feine Würdigungen der wesentlichen Werke des Dichters. Er untersucht mit besonderer Sorgfalt die Beziehungen zur Musik, die bei Thomas Mann eine so vordringliche Rolle spielen. Er beschäftigt sich mit der nicht minder bedeutsamen Frage, inwieweit die dominierenden Gestalten des Erzählers als dessen Sprecher, ja als Doubles gelten dürfen. Er weist auf Aehnlichkeiten in Stil und Faktur hin, die den deutschen Romancier etwa mit Marcel Proust verknüpfen (wobei leider die merkwürdige Parallele in der Vorliebe für lange, verwickelte, wenn nicht geschwätzige Perioden nicht beachtet wird). Er vernachlässigt nicht die wirtschaftlichen Grundlagen im Werk eines Autors, der ungeachtet mancher Kontakte mit ganz Links als der Repräsentant seiner, der bürgerlichen Klasse betrachtet werden wird. Und noch dies: das Buch ist ausgezeichnet geschrieben. Kleine Entgleisungen, wie (S. 49) „i 1 I i v r a au public la premier livre des Confessions… de Felix Krull… Ce livre (usw.)" sind selten. V ir haben also Ursache, dem hervorragenden französischen Germanisten für seine Gabe aufrichtig zu danken und ihm das gebührende Lob zu zollen.

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