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WALTHER BRINGOLF / ANGEWANDTE NEUTRALITAT

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„Selten tritt jemand Walther Bringolf ohne vorgefaßte Meinung entgegen.

Die einen sehen in ihm den joten Bringolf, den früheren Linksextremisten und Revoluzzer.

Andere bewundern den weitsichtigen Sozialpolitiker, den profilierten Parlamentarier, den Kämpfer für den sozialen Fortschritt.

Die ihn näher kennen, schätzen den Magistraten mit Sinn für Kunst und Kultur. Sie schätzen den Kunstkritiker, den Musik-und Theaterfreund, der über van Gogh und Bach genauso eingehend Bescheid weiß wie über Milchpreis und Militärbudgets, dem Rilkes“,Stundenbuch' so vertraut ist wie“,Das Kapital' von Karl Marx.“

Mit dieser einigermaßen ungewöhnlichen Charakterisierung leitet die Schweizer „Weltwoche“ die Veröffentlichung der Erinnerungen eines Mannes ein, den auch Österreichs Fernsehzuschauer kennen. In den „Stadtgesprächen“ zwischen Wien und Zürich erteilte der schweizerische Nationalrat und Stadtpräsident von Schaffhausen etlichen seiner österreichischen Gesprächspartner eine Lektion in angewandter Neutralität.

Dieser Tage nun weilte Walther Bringolf wieder in Wien, um in der kaisergelben „Diplomatischen Akademie“ Österreichs diplomatischem Nachwuchs die Interpretation der völkerrechtlichen Neutralität, gesehen durch die Brille des Nachbarn, näherzubringen.

Stärker als vielleicht noch unmittelbar in der Nachkriegszeit ist die Schweiz heute der Auffassung, daß die Neutralitätspolitik ihren bewaffneten Charakter aufrechterhalten muß. An dieser Auffassung, die er voll und ganz teilt, hielt der temperamentvolle Politiker auch vor dem Auge der Fernsehkamera fest. Ohne Überraschung nahmen Diskussionspartner und Zuseher zur Kenntnis, daß der Verfechter solcher Auffassung hoher Offizier der schweizerischen Armee ist.

Daß Walther Bringolf aber auch zu den führenden Sozialdemokraten seines Landes zählt, überraschte den Zuhörer, der in der Schweizer Innenpolitik nicht zu Hause ist, doch einigermaßen.

Bringolf — am 1. August 1895 geboren — fand im Frühjahr 1919 den Weg in die Politik, in einer Zeit des Umsturzes, auch für die scheinbar sichere Schweiz. Seit 1924 ist er Angehöriger des Großen Rates des Kantons Schaffhausen, Nationalrat seit 1925. Als Stadtpräsident der schweizerisch-deutschen Grenzstadt verspürte er auch den Krieg unmittelbarer und schmerzhafter vielleicht als die Bürgermeister anderer Schweizer Städte.

Auch in der Schweiz ist ein Generationenwechsel in der Politik im Gange, die Beibehaltung der Neutralität wird ernsthaft diskutiert. Bringolf vertritt seinen Standpunkt — den jener Generation, die zwei Weltkriege im Schutz der Neutralität sicher überstanden hat — mit allem Nachdruck. Wird die Schweiz möglicherweise das Gewand, in das Österreich nun langsam hineinzuwachsen beginnt, ablegen?

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