Kalifornien - © Foto: iStock/bttoro

American Paranoia

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Abschottung, Rückzug, Filterblasen: Der 1995 erschienene Roman „América“ von T. C. Boyle liefert Antworten auf die heutige Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft. Ein Weckruf.

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Abschottung, Rückzug, Filterblasen: Der 1995 erschienene Roman „América“ von T. C. Boyle liefert Antworten auf die heutige Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft. Ein Weckruf.

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Wutbürger, Verschwörungstheoretiker und gewaltbereite Rassisten versetzen die USA seit Wochen in einen politischen Alarmzustand. Mit dem Sturm aufs Kapitol am 6. Jänner erfolgte ein Tiefpunkt in der US-amerikanischen Demokratiegeschichte. Aber woher kommen die mehrheitlich weißen Randalierer? Wann haben sie begonnen, sich zu radikalisieren? Lange vor Twitter und Trump erzählt der US-amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle vom schleichenden moralischen Verfall einer Nation. Sein 1995 erschienener Roman „América“ (im amerikanischen Original „The Tortilla Curtain“) spürt dabei jene Abgründe auf, die das Land heute spalten. Wie ein Psychoanalytiker entlarvt Boyle das verborgene Triebwerk aus Ängsten und Aggressionen einer linksliberalen, ökobewussten oberen Mittelschicht. Einer Schicht, deren rasanter Niedergang in den 1990er-Jahren seinen beispiellosen Anfang genommen hat.

Die beiden Hauptfiguren, der naturverbundene New Yorker Delaney Mossbacher und seine Frau Kyra, eine Immobilienmaklerin, fühlen sich moralisch auf der richtigen Seite. Sie sind für Demokratie, für Menschenrechte und Freiheit. Doch sie leben auch in einer „Gated Community“, einer privat organisierten Wohnanlage. Je sicherer ihre Welt zu werden scheint, desto stärker werden die beiden Hauptfiguren von einer Paranoia dominiert, die ihren Alltag in ein freiwilliges Gefängnis verwandelt. Die Gated Communities erzeugen schon damals jenen Mechanismus der Filterblasen, der heute die Gesellschaft spaltet. Damals war dieser Rückzug nur wohlhabenden Schichten vorbehalten, während sich heute in den Sozialen Medien jeder in seine ideologische Wohnfestung zurückziehen kann. Es ist die freiwillige Segregation, die ihr eigenes Außerhalb produziert.

Doch auch in die geschlossene Wohnanlage dringt sie ein, die Gefahr. Eines Abends reißt ein Geräusch Delaney und Kyra aus ihren Stühlen. Wer ist in das Terrain, das vom Topanga Canyon umgeben ist, eingedrungen? Ein Mensch? Ein Tier? Die Figur ist nur schemenhaft zu erkennen, ehe sie in der Dunkelheit verschwindet. Ab dem Moment sind sich Delaney und Kyra sicher: Die Welt wird immer gefährlicher, schwerer zu kontrollieren.

Die Mauer

Die Grenze zwischen wirklicher Gefahr und imaginiertem Horror verschwimmt, bis die potentielle Bedrohung an jeder Ecke lauert. Denn da sind diese Figuren, dunkelhäutig und gefährlich anmutend. Sie campieren in der Nähe des Canyons, verschmutzen die Natur, versammeln sich in größeren Gruppen vor Supermärkten. Die Armut, die sich in ihren Gesichtern abzeichnet, die potentielle Aggressivität lassen Delaney und Kyra immer mehr daran zweifeln, ob ihr liberaler Weg der richtige ist. Bald schon diskutieren die Bewohner der privaten Wohnsiedlung darüber, eine Betonmauer aufzuziehen. Denn „die Mexikaner“, sie werden immer mehr, „vermehren sich wie die Karnickel“. Bald ist Delaney einer der Fürsprecher für das Tor. Man weiß ja nie. Mittlerweile hat Trump solche Sicherheitsfantasien auf nationaler Ebene verwirklicht. Die Grenzmauer zu Mexiko (auch „Tortilla Curtain“ genannt) wurde, obwohl nie fertiggestellt, zum Symbol für die Abschottung einer ganzen Nation.

Es ist der dystopische Hintergrund, der ‚Make America Great Again‘ erst seine Konturen verleiht und der sich bereits in Delaneys und Kyras Köpfen abzuzeichnen scheint.

Manuela Tomic

Es ist diese Sehnsucht nach Idylle, die Delaney und seine Frau in die Wohnanlage in unmittelbarer Nähe zum Topanga Can yon treibt. Für eine Naturzeitschrift verfasst Delaney Artikel. Regelmäßig wandert er den Topanga Creek entlang, einen der wenigen naturbelassenen, unbestauten Flüsse der Region, und schwärmt für Senfpflanzen, Rotschwanzbussarde oder Großohrhirsche. Doch die Bedrohung lauert auch hier. Delaney ärgert sich auf seinen Wandertouren etwa über die zunehmenden Müllberge am Rande des Canyons. Der Müll, die Fast-Food-Reste locken Koyoten an, die immer häufiger in Wohngegenden einfallen. Auch in seine. Es ist der verantwortungslose Umgang mit der Natur, den er anprangert. Die Idylle mutiert zur Falle. Der von Menschen gemachte Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten, der Gedanke an die verheerenden Buschfeuer in Kalifornien im Sommer 2020 unumgänglich.

Der Naturschutz ist für Delaneys Gegenspieler im Roman, Cándido Rincón, ein Luxus. Ihre beiden Welten treffen am Anfang des Romans aufeinander, schlagartig und explosiv, in Form eines Unfalls – vielleicht auch eines sozialen Unfalls, der nie hätte passieren dürfen. Delaney fährt mit dem Auto die Straße entlang, als ihm Cándido plötzlich vors Gefährt springt. Zuerst möchte Delaney ihm helfen, doch als Cándido dies verweigert, gibt Delaney ihm 20Dollar und fährt weiter.

Cándido, ein illegaler Einwanderer aus Mexiko, muss sich mit seiner Freundin América Tag für Tag in den Straßen durchschlagen. Oft haben sie nichts zu essen, kein Geld, werden von feindlichen Gruppen zusammengeschlagen, ausgeraubt. Während Cándido am amerikanischen Traum festhält, zieht sich seine 17-jährige Freundin América mehr und mehr in ihre Enttäuschung zurück. Sie will ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und eine Arbeit. Doch das scheint zu viel verlangt. Boyle kontrastiert die Extreme der USA. Die Gegensätze in einem Land, das für so viele Einwanderer die Projektion ihrer Wünsche ist. Die junge América scheint jedoch bereits jener Desillusionierung zu erliegen, die heute für viele Menschen aus Lateinamerika Realität wurde. Und so steht Cándido für die vergangene Beziehung Mexikos zu den USA, América für die zukünftige. Boyle lässt den amerikanischen Traum, der vom Wohlstandsversprechen lebt, langsam bröckeln. Dabei waren die USA in den 90er-Jahren noch eine Weltmacht.

Es war eine Zeit vor 9/11, vor der Finanzkrise, eine Zeit bevor zehntausende Amerikaner ihre Häuser verloren haben. Eine Welt vor Trump und letztlich auch eine vor Corona. Heute ist das Land nicht wiederzuerkennen. Die Armut, aus der sich die mexikanischen Romanfiguren nicht befreien können, scheint mittlerweile für Millionen US-Amerikaner Realität zu sein. Die Mittelschicht als konstituierende demokratische Macht erodiert. Bedeutende Wirtschaftszweige wie die Kohle- oder die Autoindustrie sind abgezogen. Der amerikanische Stolz, er ist verletzt.

Die Ahnung

Es ist der dystopische Hintergrund, der Make America Great Again erst seine Konturen verleiht und der sich bereits in Delaneys und Kyras Köpfen abzuzeichnen scheint. Die vermeintlichen Sündenböcke, „die Mexikaner“, sind schnell ausgemacht. Mit „América“ hat Boyle dem Verfolgungs- wahn, der so tief in der amerikanischen Kultur verwurzelt ist, ein literarisches Denkmal gesetzt. Dabei stellt er die privilegierte weiße Mittelschicht in den Vordergrund. Er zeigt, wie leicht Hass gesät werden kann, wenn sich Menschen gefährdet fühlen. Ob die Gefahr dabei eine reale oder erfundene ist, scheint keine Rolle zu spielen. Die Paranoia, der Fremdenhass in einem Land der Einwanderer: ein Selbsthass? Wäre Delaney heute QAnon-Anhänger? Wäre er mitmarschiert beim Sturm aufs Kapitol? Wäre Tyra noch Immobilienmaklerin? Hätten sich die beiden von jener Angst, die im Garten den Ausgang genommen hat, befreit? Ein Koyote hatte es geschafft, den Maschendraht zu erklimmen, und hat Kyras Hund ermordet. So viel steht fest. Ein Koyote. Oder war es doch „ein Mexikaner“?

Die zunehmende Verschanzung – und T.C. Boyles Roman „América“ – ist auch Thema im Buch: „Mind the gap“.

America - © Foto: dtv
© Foto: dtv
Buch

América

Von T. C. Boyle.
dtv 1998 400 S.,
TB, € 12,90,

Mind the gap - © Foto: Klever
© Foto: Klever
Buch

Mind the gap

Sieben Fährten über das Verfertigen von Identitäten
Von Brigitte Schwens- Harrant und Jörg Seip
Klever 2019 30 S., brosch., € 18,-

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