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Geheimnisvolles Weltreich

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Der Kontinentaleuropäer, der sich mit dem Phänomen des britischen Commonwealth zu beschäftigen beginnt, durchläuft im allgemeinen drei charakteristische Phasen. In der ersten ist er geneigt, sich ungebührlich beeindrucken zu lassen: Wie von ungefähr steigt plötzlich ein Riesenreich aus den ozeanischen Weiten vor ihm auf, man vermeint ein einheitliches Wirtschaftsgebiet zu erkennen, das von einem mächtigen Souverän beherrscht, ivon einer großen Flotte beschützt und von einem imperialen Generalstab verteidigt wird. In der zweiten Phase stellt sich eine radikale Ernüchterung ein. Nichts liegt vor als eine Kette unabhängiger Staaten, die keinesfalls alle dem Sterlingblock angehören, ihre Streitkräfte keinesfalls einem gemeinsamen Kommando unterstellen, ja nicht einmal alle Königreiche sind. Dazu kommt, daß dieses „Nichts“ auch noch ein wenig irritierend ist, wird es einem doch gern mit einem heimlichen Stolz, der sich mit Verschmitztheit paaren kann, angepriesen. Ja, ja, das Commonwealth ist schon eine ganz besondere Sache ...

In der dritten Phase beginnt sich dann hinter dem Schleier dieses scheinbaren Nichts die Realität abzuzeichnen. Das Gewebe des Reichsverbandes, so begreifen wir plötzlich, wird von unzähligen Fäden durchzogen, die, an sich oft schwach, ja sogar brüchig, doch eine erstaunliche Elastizität und Festigkeit verleihen.

Das vorliegende Buch ist hervorragend geeignet, den Weg durch die ersten beiden Phasen abzukürzen und in der dritten als Leitfaden benutzt zu werden. Coatman hat mit Fleiß und Genauigkeit alle Fakten zusammengetragen, die, übersichtlich aneinandergereiht, ein klares Bild des Weltreiches geben. Mit anziehender Selbstverständlichkeit, die doch den Stolz nicht verleugnet, berichtet er über die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Zustände innerhalb des Commonwealth. Wir erfahren, wieviel Käse und Kupfer im Weltreich erzeugt werden, was die High Comissioners in London und den Dominions für eine Aufgabe erfüllen, daß man in Neuseeland ohne weiteres an den „Geheimen Staatsrat“ in London als höchste rechtsprechende Behörde appellieren kann, während in Australien dazu die Erlaubnis des Obersten Bundesgerichtes erforderlich ist. Wir erfahren des weiteren, daß die Verfassung Kanadas nur durch einen Beschluß des englischen Parlamentes geändert werden kann, daß die Hochkommissare von Zollabgaben und Einkommensteuer befreit sind, aber nicht die Immunität ausländischer Diplomaten genießen, daß die Gouverneure der einzelnen australischen Staaten noch immer von der Königin auf Vorschlag ihrer Minister in London ernannt werden, und noch viel anderes mehr.

Bei einer so großen Uebersicht kann auf die tiefere Problematik oft nicht eingegangen werden. Spannungen, wie sie sich an diesem oder jenem Punkt des Weltreiches zwangsläufig ergeben — wie etwa in Zypern —, werden in aller Kürze und ohne viel Kommentar festgehalten, schwierige, schicksalhafte Fragen (ob beispielsweise die Goldküste und Nigeria einmal den Charakter von Gliedstaaten erhalten können, ohne daß damit die Südafrikanische Union aus dem Reichsverband getrieben wird) nicht angeschnitten. Begreiflicherweise; ein Eingehen auf diese Dinge würde'den Rahmen des Buches sprengen und seinen Wert als bunte Uebersichtskarte herab-setzen. Etwas schwieriger ist es, sich mit gewissen Vereinfachungen abzufinden. Es geht beispielsweise nicht an, den Unterschied zwischen „British subjects“, also vollgültigen Untertanen der Königin, und „British protected persons“ als rein theoretisch abzutun. Die ganz verschiedenen Einreiseformalitäten, der die beiden Gruppen in den meisten Staaten unterworfen werden, sind ja doch nur das Spiegelbild einer sehr realen Differenzierung in den Herkunftsländern.

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