Korruption x Ignoranz = Hunger3

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In letzter Minute intervenierte die internationale Gemeinschaft in Nigers Hungersnot. Gerade noch rechtzeitig, um ein Massensterben zu verhindern, und trotzdem zu spät:Auch die nächste Ernte wird mager ausfallen.

Blinde Greise prügeln mit ihren Stöcken freche Kinder weg, Großmütter keifen, Frauen zerren, stoßen, drängeln. Bei der Verteilung von 5 Tonnen Hirse in der Provinzhauptstadt Tahoua gilt das Recht des Stärkeren. Zwar haben die Angestellten der Stadtbehörde die Menschenmenge zuerst in 15er-Gruppen aufgeteilt, jeder einen 100 Kilogramm-Sack zugeteilt. Doch als die letzten zwei Säcke vom Lastwagen gehievt werden, eskaliert die Situation. Hunderte Frauen und Kinder strömen auf das ummauerte Gelände, um noch eine Handvoll Gratis-Getreide zu ergattern. Ein Pulk von fünfzig Menschen kämpft um einen Sack, Geschrei gellt über den Hof, vor lauter Leibern ist keine Handbreit Boden mehr zu sehen. Fäuste fliegen, Füße treten, Ledergürtel peitschen. Erst nach einer halben Stunde legt sich der Staub. Kinder kehren am Schauplatz der Prügelei die letzten Handvoll Sand mit Hirsekörnern in Plastiksäcke.

Blätter als Nahrung

Dürre und Heuschreckenplage haben die Lebensgrundlage der Bevölkerung Nigers, die zu 80 Prozent direkt von der Landwirtschaft abhängig ist, völlig zerstört. Selbst in den Städten ist die Lage prekär. Zwar wird auf den Märkten Essen angeboten; den meisten Menschen allerdings fehlen die Mittel, um sie zu kaufen. Der Preis für ein Kilo Hirse erkletterte jüngst den Rekordpreis von 360 cfa, gegenüber den üblichen 100 Franc cfa. Die Leute verkaufen Schmuck, Wertsachen, sogar Möbel, um sich Essen leisten zu können. Viele haben längst auch sämtliche Tiere, in Afrika das Sparkonto der Familie, veräußern müssen, wegen des Überangebotes oft zu Spottpreisen. Nun nehmen die Menschen Kredite auf. Viele Hirseernten sind bereits heute verkauft, bevor ein einziges Korn geerntet ist. Hunderttausende stehen vor dem Nichts.

"Meine Tochter ist vor 20 Tagen gestorben, nun sorge ich für ihr Mädchen", erzählt etwa Aishatou Aboubakar ihre Geschichte. Die 62-jährige Großmutter irrt mit einem winzigen einmonatigen Baby am Rücken durch den Tumult der Essensverteilung. Vor einem Monat sei ihre Tochter zu Fuß von einem 30 Kilometer entfernten Dorf zu ihr in die Stadt geflohen; auf dem Land hätte es nichts mehr zu essen gegeben. Durch den täglichen Verzehr von Wildpflanzen unterernährt und krank, wurde die Tochter ins Spital eingeliefert. Sie verstarb kurz darauf. Auch Aishatou Aboubakars weitere vier Töchter suchen bei ihr Zuflucht: "Wir wohnen zu siebt in einem Raum." Die Familie schlägt sich damit durch, außerhalb der Stadt essbare Blätter zu sammeln, um sie auf dem Markt zu verkaufen. "Gott sei Dank haben wir noch eine Ziege", zeigt Aishatou Aboubakar auf die Babyflasche in ihrer Hand. So werde sie zumindest ihr Großkind durchbringen.

Bis Mitte Juli wurde die Krise im Niger von der internationalen Gemeinschaft schlichtweg ignoriert - trotz Spendenappellen der uno seit letztem November. Es bedurfte der Bilder von abgemagerten Kindern, ehe Spenden eingingen. Zwar sind die Gelder auch heute noch knapp; mittlerweile sind aber über hundert humanitäre Organisationen in Niger eingetroffen, um den geschätzten 3,6 Millionen Betroffenen zu helfen. Inzwischen ist die Regensaison in Niger in vollem Gange: Das sonst karge Wüstenland erblüht in üppigem Grün. Dies nützt zwar den Tieren, den Menschen vorerst aber wenig. Die erlösende Getreide-Ernte erfolgt vielerorts erst Ende September.

Krise dauert Jahre

Immerhin: Das Großaufgebot an humanitären Organisationen scheint ein noch schlimmeres Massensterben gerade noch abwenden zu können. Weil die frühzeitige Bekämpfung der Heuschrecken und des Ernteausfalls wegen fehlender Mittel unterlassen wurde, wird die Krise in Niger aber weiter andauern: "Ich rechne damit, dass Niger zumindest drei Jahre braucht, um sich zu erholen", sagt Paul Arke, Nothilfespezialist von WorldVision. Das Vieh, zu 70 Prozent reduziert, muss wieder aufgestockt werden. Da das Saatgut oft aufgegessen wurde und die Männer auf der Suche nach Einkommen abwanderten, wurden dieses Jahr nur wenige Felder bestellt. "Schon heute ist klar, dass auch die nächste Ernte sehr dünn ausfallen wird", sagt Bachir Barké Doka, Koordinator des Schweizer Hilfswerk HEKS.

Zwar haben sich die Nigrer längst an harte Zeiten gewöhnt: Selbst wenn in einem Jahr genügend zur Selbstversorgung geerntet wird, reicht es selten, um Vorräte anzulegen. Da ihre Heimat sie nicht zu nähren vermag, sind die Nigrer Wanderarbeiter: Jede Familie hat zumindest ein Mitglied im Ausland. Nach der Getreideernte verlassen die Männer in Gruppen die Dörfer, arbeiten in Lybien als Feldarbeiter, an der Elfenbeinküste als Schuhputzer, in Kamerun als Straßenhändler. "Im Ausland leben mehr Nigrer als hier", sagt der 53-jährige Abdul Wahidi Karé aus Iduk, der selber oft als Saisonier unterwegs war. "Die Emigranten halten Niger am Leben."

Tarnen und (Ent)Täuschen

Vom eigenen Staat kann die Bevölkerung nichts erwarten. Nigers Staatspräsident Mamadou Tandja ist ein Paradebeispiel dafür, wie Regierungen die Machtlosigkeit der verarmten und ländlichen Bevölkerung ausnutzen, um unangefochten zu bleiben. Tandja hatte die Hungersnot lange heruntergespielt. Verständlich; kam es doch bereits nach Dürren in den Siebziger- und Achtziger-Jahren zu Machtwechseln mittels Militärputsch. Mit seiner Vertuschung allerdings hat Tandja seinen Teil dazu beigetragen, dass die internationale Gemeinschaft viel zu spät reagierte. Noch im Frühjahr hatte Tandja Demonstrationen für kostenlose Lebensmittel ignoriert und über den Hunger berichtende Journalisten als unpatriotisch diskreditiert.

Auch nun, da die Hilfe anläuft, glänzen die Regierungsorgane eher mit Korruptionsskandalen als mit Effizienz: Im Juli deckte die unabhängige Presse auf, dass mehrere staatliche Lastwagen mit Hilfsgütern anstatt in die Stadt Maradi schnurstracks über die Grenze nach Nigeria fuhren, um die Ware dort zu verkaufen. Bekannt wurde auch der Fall des Gouverneurs von Agadez, dem die Verteilung von 137 Säcken Datteln aus Lybien oblag. Kein einziger kam bei den Hungernden an: 20 Säcke gingen als Gunsterweis an die Beamten der Stadtverwaltung, 15 an den Sultanspalast, 15 ans Militär, und so weiter. Schlussendlich tauchten die Datteln zum Verkauf auf den Märkten der Stadt wieder auf.

Laut der jüngsten Studie des Forschungsinstituts für Ernährungspolitik in Washington hat sich die Zahl der mangelernährten Menschen in Afrika seit 1970 von 88 Millionen auf 200 Millionen mehr als verdoppelt. Dies, obschon in diesem Zeitraum Milliarden an Entwicklungsgeldern auf den Kontinent geflossen sind. Schuld daran sind laut der Studie in erster Linie Korruption und Misswirtschaft.

Die Wüste rückt vor

Nicht nur wegen der Korruption bleiben die Anstrengungen der Hilfswerke im Niger bloß ein Tropfen in der Wüste. Alle Brunnen, Dämme und Terrassen zur Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrages nützen nichts, wenn der Regen ausbleibt. "Die Wüste breitet sich im Galopp aus", sagt Aboubacar Ahmet, Agronom und Koordinator des lokalen Hilfswerks afaac. "Die Menschen holzen die Bäume ab, und die Wüste folgt auf den Fuß." Der Druck auf die natürlichen Ressourcen wie Wasser oder Weideland ist enorm: Niger hat mit acht Kindern pro Frau die höchste Geburtenrate der Welt. Die Menschen siedeln an den unmöglichsten Orten: "Die Leute haben hier draußen eigentlich nichts verloren", deutet Bachir Barké von heks, auf die Lehmhäuser des Dorfes Nkotajan. Rund um den sandigen Hügel gibt es nichts: Keine Bäume, keinen Brunnen. Die Einwohnerholen sich ihr Wasser, braun wie Kaffee, in Kanistern von mehreren Kilometern entfernt. Sie versuchen das Beste aus ihrer Lage zu machen. Auch wenn sie letzten Sommer nichts geerntet haben. Auch jetzt ragen die Hirsepflänzchen rund ums Dorf erst 30 Zentimeter aus dem Sand, wehen wie hellgrüne Fähnchen der Hoffnung verloren in der weiten Wüstenlandschaft. "Es ist jetzt schon klar, dass sie auch dieses Jahr nichts ernten", sagt Bachir Barké, "Die Leute hier leben nur noch von der Hoffnung."

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