Ungleiches wird Ungleich behandelt

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Die Neuregelung der Mindestsicherung hat für heftige Diskussionen gesorgt. Ein Sozialrechtsexperte und ein NGO-Vertreter beziehen hier dazu Position.

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Die Neuregelung der Mindestsicherung hat für heftige Diskussionen gesorgt. Ein Sozialrechtsexperte und ein NGO-Vertreter beziehen hier dazu Position.

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Für unterschiedliche Lebenssituationen sind unterschiedliche Regelungen wichtig, wenn man die Akzeptanz des Systems nicht gefährden will. (Wolfgang Mazal)

Die geplante Neuregelung der Mindestsicherung wird nicht akzeptieren, wer an sie mit dem bisherigen Systemverständnis herangeht. Von diesem entfernt sich der neue Ansatz jedoch bewusst, weil bestimmte Konsequenzen vielfach als unbefriedigend empfunden wurden. Es ist jedenfalls nicht zwingend, dass

arbeitsfähige Personen, die noch keine oder nur geringe Beiträge oder direkte Steuern zum österreichischen System beigetragen haben, in gleichem Maß Anspruch auf Bedarfsabdeckung aus öffentlichen Mitteln haben wie Personen, die jahrelang erwerbstätig und abgabenpflichtig waren;

jüngere arbeitsfähige Personen in den Genuss derselben Mindestsicherung kommen wie Pensionisten: zwar sieht die alte Regelung eine Kürzung der Mindestsicherung bei mangelnder Arbeitswilligkeit vor, doch war dies nur bedingt praktikabel;

die Mindestsicherung für große Bedarfsgemeinschaften zum Teil deutlich über den Erwerbseinkommen von gleich großen Familien lag. Damit entstand eine Diskrepanz zwischen jenen Erwerbstätigen, die für sich und ihre Familie keine Mindestsicherung bezogen, weil sie den Zugriff der öffentlichen Hand auf das Vermögen (dabei handelt es sich meist um ein Eigenheim) vermeiden wollten, und jenen, denen dieser Anreiz fehlt, weil sie vermögenslos sind.

Anreize anders setzen

Bei alledem handelt es sich um insgesamt überschaubare Beträge, weshalb der Wunsch nach einer Neuregelung oft als lächerlich und populistisch diskreditiert wird. Beides trifft aus meiner Sicht nicht zu:

Zwar beträgt der Aufwand für die Mindestsicherung nur weniger als ein Prozent des gesamten Aufwands für Sozialleistungen in Österreich, ist aber immerhin doppelt so hoch wie das Budget des Bundes für Kunst und Kultur oder beträgt zwei Drittel des Umweltbudgets des Bundes. Und wenn man innerhalb des Sozialbudgets die nicht beitragsgedeckten Leistungen auf die Zahl der Bezieher bezieht, zeigt sich, dass es verantwortungslos wäre, nicht darauf zu achten, dass öffentliche Gelder zielgerichtet verwendet werden.

Zum politischen Problem wurden diese Fragen, seit verstärkt Personen in den Genuss der Mindestsicherung kamen, bei denen der Eindruck entstand, dass eine Integration auch langfristig nicht gelingen wird: zum einen weil sie nicht Mindestkenntnisse der deutschen Sprache erwerben und zum anderen weil die Mindestsicherung für die Bedarfsgemeinschaft so groß ist, dass der Anreiz, die Bedarfsdeckung durch Erwerbseinkommen anzustreben, zu gering ist.

Die geplante Neuregelung folgt dem europarechtlich und in der Judikatur des VfGH ersichtlichen Konzept, das nicht eine für alle Bedürftigen einheitliche Mindestsicherung, sondern für Staatsbürger, Asylberechtigte, subsidiär Schutzbedürftige und Asylwerber die Sicherung eines "angemessenen Bedarfs" vorsieht, in dem es sachliche Differenzierungen geben kann. Zum einen wird - ausgehend von einem niedrigeren Grundbetrag -die bisherige Höhe der Mindestsicherung für Einzelpersonen nur gewährt, wenn ein für die Integration erforderliches Mindestsprachniveau erreicht wird, und zum anderen steigt die Gesamtleistung für eine Bedarfsgemeinschaft in umso geringerem Ausmaß, je mehr Personen (Erwachsene und Kinder) diese umfasst. Damit werden insbesondere für Nicht-Staatsbürger der Spracherwerb im Interesse von Integration und Arbeitsmarktteilhabe und kleinere Bedarfsgemeinschaften gefördert, wie sie dem österreichischen Lebensstil eher entsprechen.

Sorgen der Bürger ernst nehmen

Zu bedenken ist dabei, dass weiterhin für jedes Kind neben der Mindestsicherung Familienbeihilfe als Geldleistung und Ausbildung als Sachleistung gewährt werden; weiterhin jeder Bezieher Krankenversicherungsschutz genießt; für Sonderkonstellationen ein Härtefallfonds eingerichtet werden soll; die derzeitigen Pläne nichts mit der Absicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit und für Pensionisten zu tun haben; die geplanten Neuregelungen für derzeitige Leistungsbezieher nicht ohne zumutbare Übergangsfristen in Kraft treten können. Wichtig ist auch:

Spracherwerb muss möglich sein. Dies ist nach den mir vorliegenden Informationen gewährleistet, obwohl die Sonderbudgets für Sprachkurse gestrichen wurden, weil eine Finanzierung aus ordentlichen Budgets vorgesehen ist.

Wohnbedarf muss als Sachleistung gedeckt werden, wenn er nicht aus der Mindestsicherung bestritten werden kann. Hier sind vom Mietpreisniveau abhängige länderspezifische Lösungen erforderlich. Übrigens: Dem viel beschworenen gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre auch wesentlich mit einer politischen Kultur gedient, die Sorgen von Bürgern ernst nimmt und nicht ignoriert. Für unterschiedliche Lebenssituationen sind unterschiedliche Regelungen der Bedarfsabdeckung aus öffentlichen Mitteln wichtig, wenn man die Akzeptanz des Systems der Solidarität in der Bevölkerung nicht gefährden will!

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