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Das steuerfreie Minimum

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Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat erneut einen Beschluß gefaßt, der für die deutsche Einkommenbesteuerung richtungsweisend ist. Inhalt und Begründung sind zudem für jeden Staat interessant, dessen Rechtsordnung davon ausgeht, daß nicht der Mensch für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist. Damit auch für Österreich.

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Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat erneut einen Beschluß gefaßt, der für die deutsche Einkommenbesteuerung richtungsweisend ist. Inhalt und Begründung sind zudem für jeden Staat interessant, dessen Rechtsordnung davon ausgeht, daß nicht der Mensch für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist. Damit auch für Österreich.

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Im Hinblick auf grundsätzliche Parallelen der progressiven Einkommenbesteuerung verdient dieser Beschluß auch in Österreich Beachtung.

Die Hüter der deutschen Verfassung stellen zum Beschluß ihres Zweiten Senates vom 25. September 1992 (2 B vi 5/91,2 Bvl 8/92,2 B vi 14/ 91) selbst folgende Leitsätze heraus:

□ Dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen muß nach Erfüllung seiner Ein-kommensteuer-schuld von seinem Erworbenen soviel verbleiben, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie bedarf (Existenzminimum).

□ Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Der Steuergesetzgeber muß dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt.

□ Bei einer gesetzlichen Typisierung ist das steuerlich zu verschonende Existenzminimum grundsätzlich so zu bemessen, daß es in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt, kein Steuerpflichtiger also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken.

Die verfassungsrechtliche Prüfung, ob die allgemeinen Steuerfreibeträge und die Kinderfreibeträge des deutschen Einkommensteuerrechts mit dem Grundgesetz (dem deutschen Verfassungsgesetz) vereinbar sind, ist von den Finanzgerichten Münster, von Niedersachsen und des Saarlandes im Jahre 1991 ausgelöst worden. Die Prüfung hat ergeben, daß die zu prüfenden Gesetzesbestimmung mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Der Gesetzgeber ist nun aufgrund dieses Beschlusses verpflichtet, spätestens mit Wirkung zum 1. Jänner 1996 eine Neuregelung zu treffen.

Die Begründung des Beschlusses zeichnet sich durch einen rechtsgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Tiefgang aus, die dieses Erkenntnis insbesondere auch für die in

Österreich geltende Systematik der Einkommenbesteuerung interessant und vorbildhaft macht.

Mit wissenschaftlicher Literatur (auch österreichischer Provenienz) belegt, zeigt das Bundesverfassungsgericht auf, daß die allgemeine Einkommenbesteuerung in ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert von Anfang an bereits dem Gedanken folgte, daß das Einkommen zunächst zur Existenzsicherung des Erwerbenden und seiner Familie, erst dann zur Besteuerung zur Verfügung steht. Das Be-stöuerungsrecht des Staates könne erst beginnen, wo das Einkommen des einzelnen den zur Erhalt seines Lebens, seiner Gesundheit und Arbeitskraft erforderlichen Bedarf überschreitet. Maßstab hierfür sei allerdings nicht der „standesgemäße Unterhalt", sondern der zur Existenz schlechthin notwendige Einkommensbetrag. Die Steuerfreiheit des Existenzminimums kompensiere schließlich auch die schwerere Belastung der ärmeren Bevölkerung durch indirekte Steuern.

Seit 1958 wird (in der BRD) ein existenznotwendiger Mindestbedarf in der Form eines Grundfreibetrages anerkannt, der als „Nullzone" in den Einkommensteuertarif eingearbeitet ist. In der Folgezeit wurden die Grundfreibeträge mehrfach angehoben, ab 1990 auf die Höhe von 5.616 DM jährlich. Der Berücksichtigung der Existenzminimaderunterhaltsberech-tigen Kinder dient der Kinderfreibetrag, der seit 1991 3.024 DM beträgt.

Gegenstand der Prüfung war zunächst die Frage, ob die in den deutschen Einkommensteuertarif eingearbeiteten Steuerfreibeträge, dem Steuerpflichtigen einen ausreichenden Teil des Einkommens als Existenzminimum steuerfrei belassen. Schon die genannten Finanzgerichte hatten festgestellt, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben müsse.

Das bedeutendste Postulat dieses Beschlusses ist die Feststellung, daß dem Einkommensbezieher zumindest der Betrag zu belassen ist, den der Staat Bedürftigen zur Befriedigung des existenznotwendigen Bedarfes aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt - die Sozialhilfe. Wie weit die Valorisierung des steuerfreien Existenzminimums, das dem Steuerzahler aus eigenem Einkommen unangetastet verbleibt, paradoxerweise im Prüfungszeitraum hinter dem Existenzminimum nachhinkt, das aus öffentlichen Mitteln gewährt wird, zeigt die Statistik (siehe Graphik).

Im Hinblick auf die ganz anders bemessene Sozialhilfe der österreichischen Bundesländer kann als Analogie zu diesem Beschluß für Österreich nur der Ausgleichszulagenrichtsatz für alleinstehende Pensionisten herangezogen werden, der diesem ein Mindesteinkommen garantieren soll, der ein menschenwürdiges Leben ermöglicht (Paragraph 293 ASVG), das sind ab 1. Jänner 1993 jährlich 84.000 Schilling gegenüber dem steuerlichen Existenzminimum von 56.800 Schilling.

Angesichts der derzeit in Österreich geltenden Regelung, derzufolge auch die Gewährung von Absetzbeträgen nichts daran ändert, daß das Existenzminimum als Teil der Bemessungsgrundlage für die Einkommenbesteuerung besteuert bleibt, ist dieser Beschluß aus einem weiteren Grund interessant: Die zu niedrigen Grundfreibeträge seien nämlich auch dann verfassungwidrig, wenn die Steuerpflichtigen zur Erfüllung der Einkom-mensteuerschuld den das Existenzminimum verkörpernden Teil des Einkommens nicht anzugreifen brauchten. Die verfassungsgemäße Festlegung der Grundfreibeträge setze nicht nur voraus, daß den Steuerpflichtigen nach Abzug der Steuern das Existenzminimum verbleibe; vielmehr dürfe der Gesetzgeber nur das über das Existenzminimum hinausgehende Einkommen der Besteuerung unterwerfen. Der Gesetzgeber sei aber nicht gehindert, Steuerausfälle, die durch höhere Grundfreibeträge entstünden, durch eine höhere Besteuerung des über das Existenzminimum hinausgehenden Teils des zu versteuernden Einkommens auszugleichen.

Wenn sich die Entscheidung auch auf Verfassungsbestimmungen berufen kann, welche die österreichischen Vefassungsgesetze nicht kennen (wie zum Beispiel Schutz der Familie, Sozialstaatcharakter), so sind doch die angestellten Überlegungen auch für Österreich anwendbar: schon aufgrund des Gleichheitssatzes, wie der österreichische Verfassungsgerichtshof in einigen jüngsten Entscheidungen festgestellt hat, und aufgrund des Eigentumsschutzes, wie das Wiener Karl Kummer-Institut für Sozialpolitik und Sozialreform aufgezeigt hat.

Ganz anders geartet ist aber die Akzeptanz der Verfassungsrichter-Ent-scheidung in Deutschland durch den Gesetzgeber verglichen mit der Situation hierzulande: Trotz der erwarteten Steuerausfälle in Bund und Ländern in der Höhe von rund zwei Milliarden DM für das nächste Jahr wurden die notwendigen rechtlichen Änderungen schon beschlossen und im deutschen Budget 1993 - schon mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1993 - berücksichtigt.

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