Die Welt in Buchstaben

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Lesen ist mehr als Buchstabenentziffern - was in Lesern vorgeht, entzieht sich| der Kontrolle. Lesen wäre dann eine Möglichkeit, sich Freiheit zu bewahren.

Neunzig Prozent der Mexikaner waren 1920 Analphabeten, erzählt Carlos Fuentes in seinem "Alphabet des Lebens“. Der erste Minister für Erziehung und Kultur der revolutionären Regierung initiierte daher eine Alphabetisierungskampagne. Man schickte Lehrer aufs Land - dort aber wurden sie an Bäumen erhängt, andere kamen verstümmelt zurück, schreibt Fuentos. Denn die Kampagne war nicht im Interesse der Hacienda-Besitzer, die "unterwürfige, unwissende, treu ergebene Vasallen“ brauchten.

So sehr Demokratien auf Lese- und Schreibkundige setzen und setzen müssen, so sehr setzt diktatorische Macht, die ihre Macht erhalten will, auf das Gegenteil. Die Geschichte der Zensur bis heute erzählt von dieser Sorge diverser Regimes, dass, wer lesen kann und liest, gefährlich werden kann.

Dabei zeigt sich aber auch, dass Lesen mehr ist als bloßes Buchstabenentziffern. Den PISA-Studien zugrundeliegende Definitionen lauten etwa so: "Lese-Kompetenz zu besitzen heißt geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“ (OECD 2004) Das ist auffällig pragmatisch formuliert und das Interesse scheint vor allem dem Lesen von Informationstexten zu gelten.

Kollektives Erbe

Doch wer lesen kann, kann noch mehr. Beim Lesen kann etwas angestoßen werden, ins Rollen kommen - das gilt auch und vor allem beim Lesen von Fiktionen. Auf die Frage "Wozu dient Literatur?“ meinte Umberto Eco einmal: "Es würde genügen zu antworten …, daß sie ein Gut ist, welches um seiner selbst willen konsumiert wird und daher zu nichts dienen muß“.

Aber Literatur erfüllt doch individuelle und gesellschaftliche Funktionen, so Eco weiter: Sie hält Sprache als kollektives Erbe lebendig, sie formt sie, schafft Identität und Gemeinschaft. Zudem lädt Literatur ein, die Welt in den Augen anderer bzw. ganz anders zu sehen. Dass gebildete Leserinnen und Leser deswegen aber nicht unbedingt tolerant sind, auch das erzählen leider dunkle Kapitel unserer Geschichte.

Heute beklagt man hierzulande, dass zu wenig gelesen wird. Es gab Zeiten, da beklagte man, dass zuviel gelesen wurde. Die Lesesucht-Diskussionen des 18. Jahrhunderts zeugen davon. Die Frauen vernachlässigten den Haushalt, so lautete damals ein Vorwurf, und er entsprang wohl auch der Sorge, Literatur könne Frauen anstiften, die ihnen gesellschaftlich zugebilligten Rollen zu verlassen. Behauptungen wie jene, die "Romanleserey“ führe zu pathologischen Symptomen, die an jene der Drogensucht erinnern, denn die Leser "leben nicht mehr in der wirklichen Welt, sie sind in den höchsten Träumen der Einbildung ihren Mitmenschen entrissen“, verweisen auf die unheimliche Tatsache, dass nicht kontrollierbar ist, was in Leserinnen und Lesern vorgeht.

Selbstbestimmung verteidigen

Der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa sprach deshalb in einem Essay vom Lesen als einer "Form, die Selbstbestimmung des Individuums zu bekräftigen und sie zu verteidigen, wenn sie bedroht ist; einen eigenen Freiheitsraum zu bewahren“, der andere Freiheiten eröffnet. Deshalb ist die Literatur auch eine "ständige Bedrohung für jede Macht, welche die Menschen zufrieden und konform sehen möchte. Die Lügen der Literatur beweisen uns, wenn sie in Freiheit entstehen, daß dies nie so war. Und sie zetteln eine nicht enden wollende Verschwörung an, damit dies auch in Zukunft nicht so sein möge.“

Sind nun die "Lügen der Literatur“ ihrerseits bedroht durch Internet und Co.? Umberto Eco, der bekannte Buchliebhaber, bleibt angesichts der technischen Entwicklungen gelassen. "Das Buch hat sich vielfach bewährt, und es ist nicht abzusehen, wie man zum selben Zweck etwas Besseres schaffen könnte als eben das Buch. Vielleicht wird es sich in seinen Komponenten weiterentwickeln, vielleicht werden seine Seiten nicht mehr aus Papier sein. Aber es wird bleiben, was es ist.“ Mehr noch: "Durch das Internet sind wir ins Zeitalter des Alphabets zurückgekehrt.“ Der Computer führe nämlich wieder zurück in die totgesagte "Ära Gutenberg“, "und heutzutage sieht sich jedermann gezwungen zu lesen.“

Auch das Lesernetz wurde erweitert, nun sitzen weltweit Menschen in Internetcafés, lesen Texte aus aller Welt und schreiben E-Mails in alle Welt. Wenn sie denn lesen und schreiben können. Das bleibt die entscheidende und unterscheidende Frage. Medienkompetenz muss nicht unbedingt gegen Lesekompetenz wirken, sie kann diese im Gegenteil auch verstärken. Die Gefahr ist aber groß, dass die Kluft zwischen jenen, die durch Medien- und Lesekompetenz immer besser informiert sind, und jenen, die das nicht sind, umso größer wird.

Durch den Computer sind neue Zeichen hinzugekommen, meint Jean-Claude Carrière in einem Gespräch mit Eco (nachzulesen in "Die große Zukunft des Buches“): "Unser Alphabet hat sich erweitert. Lesen zu lernen wird immer schwieriger.“

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