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Gnade von Anfang an

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Allmächtiger und barmherziger Gott, Deiner Gnade ist es zu verdanken, wenn Dir Deine Gläubigen würdig und untadelig dienen; gib uns, wir bitten Dich, daß wir Deinen Verheißungen ohne Sünde entgegeneilen.

(.Kirchengebet vom 12. Sonntag nach Pfingsten)

Die gebräuchliche deutsche Übersetzung des lateinischen „sine offen- sione" durch „ohne Sünde” geht etwas tiefer als der Urtext. „Offensio” bedeutet mehr die Beleidigung im streng juristischen Sinn, Gott gegenüber so etwas wie die Majestäfsbeleidigung in der Alten Welt, die fast automatisch die Ahndung nach sich zog. Eine solche „offensio" brauchte nicht einmal immer ein ausgesprochener Bosheitsakt zu sein. Sie konnte unversehens passieren, wie etwa die im Alten Bund (2 Sam. 6,6) verzeichnete Tat des unglücklichen Oza, der die während des Triumphzuges vom Stürzen bedrohte Bundeslade mit einer ungestümen Handbewegung auffangen wollte und der deswegen durch die Hand des Herrn mit dem sofortigen Tode bestraft wurde. Wir beten am heutigen Sonntag vertrauensvoll, daß wir auf unserem Wege zum Heile vor solchem Verhängnis bewahrt werden mögen. Aber ist das Wort „Verhängnis" überhaupt christlich? Ist nicht der Gott, der dem Oza Eifer für Seine heilige Lade ins Herz legte und der Gott, der ihn um eben dieses Eifers willen niederschlug, der Eine und Gleiche, der Lebendige, der nichts mit dem dumpfen, unpersönlichen Verhängnis zu tun hat? Die Kirche, die dieses Gebet formuliert hat, nimmt diese Frage sehr ernst. Sie hebt zu Eingang des Gebetes hervor, daß all unser „würdiges und untadeliges Dienen" der Gnade zu verdanken sei. „N u r der Gnade", ist auch der Katholik, der um die Bedeutung dieses Wortes in der Reformation' Bescheid weif), versucht, sinngemäß er gänzend hinzuzufügen. Denn was will dieses Gebet anderes als — wie so viele andere, die wir an diesen nachpfingstlichen Sonntagen zu verstehen versuchten, dem von Selbsigerechtig- keit immer aufs neue bedrohten Christen vor Augen führen, wie sehr er das alles der Gnade verdankt? Mehr noch: daß selbst das Gnadenbewußt- sein, jetzt im wahrnehmbaren Augenblick nach Menschenermessen „würdig und untadelig zu dienen" nicht von der unmittelbar folgenden Bitte um weiteren Beistand befreit. Die Gnade ist eben für das Verständnis des katholischen Beters nichts Einmaliges und Punktuelles. Der Weg des Christen geht unaufhaltsam weiter. Niemand kann sagen, was die nächste Biegung bringt, wo uns die Bundeslade begegnet, die wir um jeden Preis retten und vom Stürzen bewahren wollen, ohne zu wissen, daß wir uns vielleicht gerade damit versündigen. Und das wirklich im Sinne der Sünde, nicht nur im Wortlaut einer formalen juristischen „offensio", für die wir gute Entschuldigungsgründe anzuführen gewohnt sind. Wir können nicht anders: Gerade angesichts eines solchen Gebetes müssen wir die Frage, die wir schon vor einigen Wochen (am 6. Sonntag nach Pfingsten) aufwarfen, wiederholen: Wissen unsere getrennten evangelischen Brüder von diesen Texten, die nicht nur private Theologenmeinungen darstellen, sondern offizielles Gebetsgut der katholischen Kirche sind? Wußten die Reformatoren davon oder hat man — was ein Historiker untersuchen müßte — sie zur Zeit Luthers nicht so gebetet? Wir 'eben in solchen Gebeten nicht so sehr Anlaß zur philologischen Untersuchung als vielmehr die Grundlage zu Neuem, zu einer Gesprächsbegegnung im Zentrum des Frömmigkeifslebens, das sich hier in einer Weise manifestiert, die wahrhaft repräsentativ genannt werden kann.

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