Kulturelle Calvinisten

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Amerikas Katholiken wissen wenig über die Katholische Soziallehre - oder sie wollen wenig davon wissen. Der Grazer Sozialethiker kurt remele sprach für die Furche mit dem afroamerikanischen Bischof John H. Ricard.

John H. Ricard ist Diözesanbischof von Pensacola-Tallahassee in Florida. Von 1989 bis 1992 leitete er den Ausschuss der US-amerikanischen Bischofskonferenz für amerikanische Innenpolitik. Seit 2002 ist er Vorsitzender der Arbeitsgruppe für internationale Angelegenheiten. Der 63-jährige Ricard ist einer von dreizehn afroamerikanischen katholischen Bischöfen der USA. Im Gespräch nimmt er zu wesentlichen Aussagen und Fragestellungen der katholischen Kirche der USA Stellung.

Unwissen über Soziallehre

"Es gibt allzu viele Katholiken, denen die grundsätzlichen Inhalte der katholischen Soziallehre fremd sind. Zudem ist vielen Katholiken nicht entsprechend bewusst, dass die Soziallehre der Kirche einen wesentlichen Bestandteil des katholischen Glaubens darstellt." (Katholische Bischöfe der USA, Sharing Catholic Social Teaching, 1998)

Die Furche: In den Jahren 1983 und 1986 veröffentlichten die US-amerikanischen Bischöfe zwei auch in Europa vielbeachtete Sozialhirtenbriefe: "Die Herausforderung des Friedens" und "Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle". Diesen umfangreichen, sachlich kompetenten und regierungskritischen Pastoralschreiben, die erst nach einem längeren öffentlichen Diskussionsprozess beschlossen wurden, sind keine weiteren dieser Art gefolgt. Warum eigentlich?

Bischof John H. Ricard: Die zwei genannten Dokumente waren außergewöhnlich. Sie waren eine Antwort auf die außergewöhnlichen Ereignisse der Zeit. Sie waren als breite Grundlage gedacht. Nach diesen zwei Dokumenten entschieden wir uns aber für eine andere Vorgehensweise: Wir schrieben kürzere Dokumente, die sich auf das Wesentliche konzentrieren. Dadurch wollten wir mehr Menschen erreichen. Unser Hauptanliegen war und ist, Fragen zu stellen und die Menschen dazu zu bringen, über gesellschaftliche Probleme nachzudenken. Wir wollen den Menschen nicht einfach sagen, was sie zu tun haben.

Die Furche: Sie sagen, dass sich die US-amerikanischen Bischöfe bemühen, den Menschen die Soziallehre der Kirche nahezubringen. Neueste empirische Studien aber zeigen, dass amerikanische Katholiken weiterhin recht wenig über die Soziallehre ihrer Kirche wissen. Sie scheint "das bestgehütetste Geheimnis der Kirche" zu bleiben, wie das ein Theologe einmal ausgedrückt hat. Viele amerikanische Katholiken sind zudem überhaupt nicht einverstanden mit der bischöflichen Ablehnung der Todesstrafe oder des Kriegs gegen den Irak.

Ricard: Jemand sagte einmal, dass die amerikanischen Katholiken im Hinblick auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit "kulturelle Calvinisten" seien. Die amerikanische Gesellschaft ist weitgehend calvinistisch geprägt. Sobald die Katholiken ihren Status als Einwanderer und Außenseiter überwunden hatten und zu größerem sozialen Wohlstand und politischem Einfluss gelangt waren, übernahmen sie auch die kulturellen Normen der Gesellschaft.

Die Furche: Wie definieren Sie einen "kulturellen Calvinisten"? Welche Eigenschaften sind für ihn charakteristisch?

Ricard: Ein wesentliches Element des Calvinismus ist für mich die Ansicht, dass Menschen deshalb arm sind, weil sie moralisch versagt haben. Wenn du arm bist, dann bist du selbst schuld. Es fehlt die Einsicht, dass gesellschaftliche Strukturen wesentlich zur Armut von Menschen beitragen. Ein weiteres Merkmal ist ein "rugged individualism", ein rauer, krasser, hemmungsloser Individualismus. Die katholischen Vorstellungen von Gemeinwohl und Solidarität werden nicht so anerkannt und geteilt, wie wir das gerne hätten. Es herrscht auch ein starkes Vergeltungsdenken: Vergeltung und Strafe sind wichtiger als Gnade oder Mitgefühl oder Vergebung. Wir leben in einer Gesellschaft, die, wie jemand sagte, alles erlaubt und nichts vergibt.

Die Missbrauchsskandale

"Wir Bischöfe und unsere Kirche sind mit dem schrecklichen Skandal des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester konfrontiert und mit all dem Leid und Schmerz, dem Verlust an Vertrauen und an Glaubwürdigkeit, die dieser Skandal mit sich gebracht hat. Wir tragen eine besondere Verantwortung dafür, uns dieser Krise und unserer Rolle darin zu stellen." (Katholische Bischöfe der USA, A Place at the Table, 2002)

Die Furche: In Europa kam die katholische Kirche der USA in letzter Zeit vor allem durch die Tatsache in die Medien, dass sich zahlreiche Kleriker an Kindern und Jugendlichen sexuell vergangen haben und Bischöfe darauf häufig nicht entsprechend reagierten. Sind sie zuversichtlich, dass die amerikanische Kirche diesen Skandal bewältigen wird können?

Ricard: Dieser Skandal hatte eine gravierende Auswirkung auf unser Zeugnis. Aber wir sind dabei, diese Wunde zu heilen. Man ist sich häufig nicht bewusst, dass sich höchstens ein Prozent der Priester eines solchen Verhaltens schuldig gemacht hat. In der Politik gibt es ein Motto, das lautet: "Jede Politik ist lokal." Meiner Überzeugung nach besteht auf der lokalen Ebene in den allermeisten Diözesen, mit Ausnahme etwa von Boston, weiterhin Vertrauen der Katholiken in ihren Bischof und ihre Priester.

Ermutigung für Frauen

"Einige Frauen, die von ihren Männern misshandelt werden, glauben, dass die katholische Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe ihnen gebietet, in einer solchen gewalttätigen Beziehung zu verbleiben. Sie zögern vielleicht, sich von ihrem Mann zu trennen oder sich von ihm scheiden zu lassen ... Es ist nicht die Scheidung, sondern es sind Gewalt und Missbrauch, die eine Ehe zerstören. Wir ermutigen misshandelte Frauen, die sich scheiden haben lassen, eine kirchliche Annullierung ihrer Ehe in Erwägung zu ziehen." (Katholische Bischöfe der USA, When I Call for Help: A Pastoral Response to Domestic Violence Against Women, 1992. Überarb. Neuaufl. 2002)

Die Furche: Nicht nur mit misshandelnden Priestern beschäftigen sich die Bischöfe, sondern auch mit misshandelten Frauen. In einem "When I Call for Help" betitelten Schreiben über Gewalt gegen Frauen rufen die amerikanischen Bischöfe nicht zu geduldiger Leidensbereitschaft auf, sondern bestärken misshandelte Frauen in ihrem Anliegen, sich von ihren Männern zu trennen oder gar scheiden zu lassen. Wie verhält sich diese bemerkenswerte Aussage aber zum traditionellen katholischen Grundsatz von der Unauflöslichkeit der Ehe?

Ricard: "When I Call for Help" ist eine pastorale Antwort. Wir haben darin nicht versucht, den Grundsatz von der Unauflöslichkeit der Ehe näher zu behandeln. Wir mussten auf die schlimme Lage von Frauen reagieren, die von ihren Männern misshandelt werden.

Leiden um des Leidens willen ist kein Wert des Evangeliums. Das Evangelium verkündet vielmehr: "Ihr sollt Leben in Fülle haben." Gott will, dass wir inneren Frieden finden und mit uns selbst glücklich werden. Und wenn eine Situation dem widerspricht, sollte man sie verändern. Das ist nicht nur unser von Gott gegebenes Recht, sondern auch unsere Pflicht.

Kurt Remele ist zur Zeit Fulbright Gastprofessor an der Catholic University of America in Washington.

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