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Österreich - „Burgenland“ Europas?

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Aus der Perspektive des Europamarktes aller OEEC-Staaten, die zusammen eine Bevölkerung von 284 Millionen aufweisen, erscheint Oesterreich nicht größer als das Burgenland mit seinen 258.000 Einwohnern aus der österreichischen 7-Millionen-Perspektive. In beiden Fällen entdeckt der Blick desjenigen, der sich ins Zentrum versetzt, ziemlich weit draußen im Osten ein Land, dessen Bevölkerung notgedrungen einer toten Grenze den Rücken zuwendet und verständnisheischend nach dem Westen blickt.

Es gibt innerhalb der OEEC-Staaten ein deutliches Wohlstandsgefälle. Im 7. OEEC-Bericht wurde Oesterreich auf Grund seiner privaten Konsumausgaben zusammen mit der Deutschen Bundesrepublik, Frankreich, den Niederlanden und Island in die Gruppe mit den zweithöchsten Ausgaben eingeordnet, während zum Beispiel die Schweiz in die Gruppe 1 und Italien in die Gruppe 3 karo. Damit ist aber nöch keine ausreichende Differenzierung für den Eurppa- liiärkt gegeben: hier 'bilden die Deutsche Bundesrepublik und Oesterreich durchaus keine vergleichbaren Größen, wie die nachfolgende Gegenüberstellung zeigt.

Bedingt vor allem durch den Grad der Industrialisierung, der in den zuletzt genannten Prozentzahlen zum Ausdruck kommt, hat sich zwischen der Deutschen Bundesrepublik,' Oesterreich und Italien ein deutliches Nord-Süd-Ge- fälle herausgebildet. Die mittlere Stufe kann dieses Gefälle jedoch nur wenig ausnützen. Bei wirtschaftlichen Vorgängen von europäischen Dimensionen, wie der Beschäftigung von Süd- rtalienern im Ruhrgebiet und deutschen Kapitalbeteiligungen sn Inventionen in iditalien. kann der „Korndor“ votį YpŲrlbergĮvuod Tirol leicht übergangen werden.

Nun besteht aber innerhalb Oesterreichs auch noch ein deutliches West-Ost-Gefälle. Daß der Wohlstand in Vorarlberg höher ist als im Bur genland, ist auch ohne regionale Volkseinkommenstatistik gleichsam mit freiem Auge erkennbar; es ist aber auch an Hand der Steuerstatistik nachweisbar, wenn man den Sonderfall Wien als Industrie- und Handelszentrum eliminiert.

Die an die Deutsche Bundesrepublik grenzenden Bundesländer sind in beiden Fällen, wenn auch in verschiedener Reihenfolge, deutlich von den Bundesländern mit der toten Staatsgrenze zu unterscheiden. Schon das innerösterreichische Beispiel weckt Bedenken, ob zwischen Ländern mit verschiedenem Wohlstandsniveau das Gesetz kommunizierender Gefäße gilt, das diese Unterschiede zwangsläufig beseitigt. Auch nach dem Fall der Demarkationslinien und dem Abzug der Besatzungstruppen strömten weder Kapital noch Arbeitskräfte auf breiter Front in das Burgenland ein, vielmehr trägt das Burgenland nach wie vor durch 16.000 Wanderarbeiter zum Steueraufkommen anderer Bundesländer bei und muß für Kapitalanlagen besondere Begünstigungen bieten.

Auch hinsichtlich des Europäischen Marktes darf man sich nicht der Illusion hingeben, daß nach dem Abbau der Zollmauern neben den mit Sicherheit zu erwartenden ausländischen Waren etwa auch ausländisches Kapital oder ausländische Arbeitskräfte nach Oesterreich hereinströmen werden. Es sind auch Strömungen denkbar, die dem Wohlstandsgefälle zuwiderlaufen.

Eines ist sicher: zwischen Betrieben gleicher Größe und Produktivität werden nach dem Wegfall der Zollbelastung die Transportkosten zu dem Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit werden. Vorausgeschickt sei, daß Oesterreich nur selten mit Betrieben gleicher Größe und Produktivität wird aufwarten können; nur

1,9 Prozent der österreichischen Industriebetriebe sind als Großbetriebe anzusehen, und die meisten Betriebe im Osten Oesterreichs sind modernisierungsbedürftig. Gerade die letzteren werden aber auf dem westösterreichischen Markt einen schweren Stand haben. Auf Grund der Transportkosten liegt zum Beispiel die Wettbewerbsparität zwischen einem Wiener und einem Münchner Betrieb in der Gegend von Wels (und dieses Beispiel ist keineswegs tendenziös, wie sich jeder durch einen Blick auf die Landkarte überzeugen kann).

Die „Wasserscheide“ der Transportkosten entscheidet jedoch nicht über die Zu- oder Abwanderung von Arbeitskräften und auch nicht über den Zu- oder Abfluß von Kapital. In der Regel ist die Wanderung der Arbeitskräfte dem Wohlstandsgefälle entgegengesetzt. Zwischen 1950 und 1955 verzeichnete zum Beispiel Italien eine Nettoauswanderung von 400.000 Personen, während die Schweiz eine Nettoeinwanderung von 93.000 und die Deutsche Bundesrepublik eine Nettoeinwanderung von 690.000 verzeichnete. Es wäre jedoch denkbar, daß einem West- Ost-Gefälle in der Entlohnung ein Ost-West- Gefälle in den Lebenshaltungskosten entgegen wirkt; diese Wirkung wird freilich mit der Höhe der Entlohnung abnehmen und zum Beispiel bei Facharbeitern, Technikern und Forschern am schwächsten sein.

Eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs und des Gewinntransfers zwischen den OEEC- Staaten könnte schließlich eine gegenläufige Strömung bewirken: Oesterreicher könnten, angelockt durch größere Krisenfestigkeit und höhere Gewinnaussichten, ihr Geld in ausländischen Wertpapieren anlegen, während ausländisches Kapital sich an österreichischen Unternehmungen beteiligt. Zum Teil könnte das eine sogar das andere fördern, weil jede Kapitalflucht aus einem an. sich kapitalarmen Land die Bedeutung des Auslandskapitals erhöht. Gefährlich wäre hier vor allem der grundverschiedene Charakter der beiderseitigen Kapitalanlagen. Die österreichischen Zwergkapitalien würden im Ausland nur zu Streubesitz führen, während umgekehrt ausländisches Kapital in Oesterreich zur Majorisierung von Aktiengesellschaften oder zumindest für Sperrminoritäten verwendet werden könnte.

Diese Gefahren aufzeigen, heißt nicht, sie als unabwendbar ansehen. Es soll hier nur vor der Illusion gewarnt werden, daß Oesterreich sich für zollfreie Importe auf jeden Fall durch unverzollte Exporte nach Staaten mit zusammen 284 Millionen Konsumenten entschädigen kann. Bei Abwanderung von Arbeitskräften, Kapitalflucht und Ausverkauf unserer Rohstoffe in unverarbeitetem Zustand — um einen Extremfall anzuführen — würde nur der österreichische 7-Millionen-Markt für die übrigen Staaten zur Realität, während der Europäische Markt für Oesterreich eine Fata Morgana bliebe.

Welches die geeignetsten Maßnahmen sind, um zu verhindern, daß Oesterreich zum „Burgenland“ Europas wird, kann in diesem Rahmen nicht behandelt werden. Wegweisend für den österreichischen Kapitalmarkt ist zweifellos die Popularisierung des Wertpapiersparens durch die Volksaktie, und wegweisend für den europäischen Kapitalmarkt könnte der Vorschlag Professor Byės sein, der durch eine europäische Investitionsbank eine Kapitallenkung zugunsten der kapitalschwächeren Länder vorsieht.

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