Karin Birner Missbrauch Trauma Kind  - © Karin Birner

Jan Gysi: "Wir sind mit einer Hetzjagd konfrontiert“

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Schweizer Traumatherapeuten sind mit Vorwürfen konfrontiert, bei der Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch suggestiv zu arbeiten. Psychiater Jan Gysi zum neuen „Streit um Erinnerungen“.

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Schweizer Traumatherapeuten sind mit Vorwürfen konfrontiert, bei der Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch suggestiv zu arbeiten. Psychiater Jan Gysi zum neuen „Streit um Erinnerungen“.

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#Metoo hat die Welt verändert. Betroffenen von Missbrauch ist es heute möglich, über ihre Geschichte offen zu sprechen und auf Empathie zu treffen. Häufig handelt es sich dabei um Gewalt, die den Opfern im Erwachsenenalter oder im Berufskontext zugestoßen ist. Anders verhält es sich mit Missbrauch, der Kindern angetan wird. Wer hier die Stimme erhebt, läuft Gefahr, beschuldigt zu werden sich falsch zu "erinnern". Missbrauch an Kindern ist in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabu und erhitzt die Gemüter: Anstatt sachlicher Aufarbeitung kommt es zu hetzerischen Auseinandersetzungen - oftmals unter der Gürtellinie und nicht nur gegen die Opfer, sondern auch gegen jene, die sie am meisten unterstützen, die Trauma-Therapeuten und -Therapeutinnen.

Jan Gysi ist langjähriger Spezialist im Bereich der Traumatherapie, Ausbildner und Verfasser eines Standardwerks zur Erkennung von Traumafolgestörungen. Was sagt der wissenschaftlich tätige Psychiater und Psychotherapeut zum kursierenden Begriff der „Scheinerinnerungen“ und zu den aktuellen Vorwürfen gegen ihn und seine Berufsgruppe? DIE FURCHE hat den Schweizer Facharzt zum Zoom-Interview getroffen.

DIE FURCHE: Nicht nur Sie, die gesamte Traumatherapie-Szene in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz wurde heuer von einem regelrechten „Medienkrieg“ heimgesucht. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, ob Traumatherapeuten ihren Klienten im großen Stil Scheinerinnerungen von Missbrauch suggerieren. Zuletzt ging es sogar um organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt. Eine ähnliche öffentliche Debatte gab es bereits vor 30 Jahren in den USA – die sogenannten „Memory Wars“. Was sagen Sie dazu?

Jan Gysi: Wir sehen uns mit einer massiven Hetzjagd konfrontiert, die längst die Ebene eines redlichen und sachlichen Diskurses verlassen hat. Die aktuelle Medienberichterstattung zum Thema lässt mehrheitlich jegliche rationale, objektive Betrachtung vermissen. Kritische Stimmen zu dieser einseitigen Narrativpflege sind kaum zu vernehmen. Ja, es sind Fehler im Bereich der Traumatherapie passiert. Einige davon werden nun stellvertretend auf meinen Schultern und auf der gesamten Therapierichtung abgehandelt. Es ist wichtig, dass wir uns dieser Herausforderung stellen, um die Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Traumatherapie weiterhin ein wertvolles Werkzeug für diejenigen bleibt, die sie am meisten brauchen.

DIE FURCHE: Im Zusammenhang mit den Vorwürfen fällt immer wieder der Begriff der „Scheinerinnerungen“. Was halten Sie von diesem Konzept?

Gysi: Das Wort „Scheinerinnerung“ erlebe ich in seiner aktuellen medialen Verwendung als Propagandabegriff, hinter dem eine gewisse Ideologie steht. Was wäre der Gegenbegriff? „Schein-Entlastungen“, „Schein-Freisprüche“... Aber man sollte Propaganda nicht mit Propaganda bekämpfen. Fakt ist, es gibt falsche Erinnerungen von traumatischen Erlebnissen. Und es gibt reale traumatische Erlebnisse, die nur zum Teil richtig erinnert werden. Wir müssen damit leben, dass wir momentan keine wissenschaftliche Methode haben, um den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen zu 100 Prozent sicher zu bestimmen. Wir haben immer nur Annäherungen. Es ist nachgewiesen, dass rund zehn Prozent aller Aussagen bei der Polizei Falschaussagen sind. Mengenmäßig sind die richtigen Aussagen zu realem Missbrauch um einiges höher als die falschen Missbrauchsberichte. Falsche Missbrauchsberichte können trotzdem großen Schaden anrichten. Letztlich wird uns die Polarisierung, die hinter Begriffen wie „Scheinerinnerungen“ steht, nicht weiterbringen.

DIE FURCHE: Propaganda zu welchem Zweck?

Gysi: Wir müssen grundsätzlich zwischen zwei Formen von Suggestion unterscheiden. Das eine ist die Suggestion von Gewalt. Das bedeutet, dass ich in ein Gespräch gehe und die Vorannahme habe: Es muss Gewalt gegeben haben. Ich bin also in diese Richtung suggestiv. Man kann Kindern unkritisch glauben oder sie suggestiv beeinflussen, dann können schlimme Fehler passieren. Das andere Extrem ist aber die Suggestion von Nicht-Gewalt. Wenn jemand die Grundhaltung hat: Die meisten Frauen lügen oder die meisten Traumatherapeuten manipulieren, dann ist das auch eine Form der Suggestion. Das ist die Realität von Bergisch-Gladbach, von Staufen oder auch der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. (Anm. der Red.: In Bergisch-Gladbach wurde 2019 ein riesiges Missbrauchsnetz aufgedeckt; in Staufen wurden zwei Kinder über Jahre via Darknet verkauft.) Auch da sind Fehler geschehen, weil man Kindern und Erwachsenen zu wenig geglaubt hat. Auf diese beiden Extreme müssen wir achten!

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