Reisen in die erzählte Stadt

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Städte als Herausforderung für die Literatur und als Denkbilder von Gesellschaftten und Kulturen.

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Städte als Herausforderung für die Literatur und als Denkbilder von Gesellschaftten und Kulturen.

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Die Stadt ist ein Ort, "an dem gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar werden können, sich Konflikte zeigen und politische Fragen sich deutlicher stellen lassen", schreibt Kathrin Röggla in ihrem Essay "Geisterstädte, Geisterfilme". In der Literatur kann die Stadt deshalb zum Symbol werden und - pars pro toto - sichtbar machen, was in der Gesellschaft vor sich geht, so wie auch die Gasse oder das Viertel die Stadt zeigt.

Wenn Nagib Machfus in seinen Romanen, etwa in "Die Kinder unseres Viertels"(1959), das alte Kairoer Viertel Gamaliya erschreibt, in dem er seine Kindheit verbrachte, wenn er Gespräche in den Kaffeehäusern erzählt und vom Leben der Bewohner der Midaq-Gasse, zeigt er dabei immer auch die Stadt Kairo, die ägyptische Gesellschaft und ihre Veränderungen und Umbrüche.

Wenn John Lanchester in seinem Roman "Kapital" (2012) von den Bewohnern und Besuchern der "Pepys Road" in London erzählt, erschreibt er nicht nur ein erkennbares London, sondern auch beunruhigende Veränderungen in der Gesellschaft, die sich nicht auf London oder Großbritannien beschränken.

Wenn David Wagner in seinem Roman "Vier Äpfel" (2009) einen Gang durch einen Supermarkt unternimmt, so ist die dort erfahrene Beziehungslosigkeit zugleich ein klassisches Thema der Stadtromane, die von Anfang an Masse und Anonymität auch kritisch im Blick hatten: Man begegnet "unzähligen, wildfremden Menschen" und tut, "als wären sie gar nicht da".

Stadt als "Denkbild"

"Was wüssten wir vom Russland zur Zeit der Napoleonischen Kriege ohne Tolstois Krieg und Frieden? Was vom Leben in der französischen Provinz im späten 19. Jahrhundert ohne Flaubert?" fragte Urs Widmer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen. Doch zugleich müsste Michael Endes Frage dagegen gestellt werden: "Gibt es eine Stadt namens Moskau, so wie Tolstoi sie beschreibt, eine Stadt namens Berlin, von der Fontane erzählt, eine Stadt namens Paris, wie Maupassant sie schildert, wirklich, oder hat es sie jemals gegeben?"

Die erzählte Stadt ist nicht einfach nur ein "Abbild", sondern mindestens auch ein "Denkbild", wie die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel das einmal formuliert hat. Im Bild einer Stadt - davon erzählt auch Italo Calvinos Werk "Die unsichtbaren Städte" (1972) - drücken sich Ordnungs-und Denkmuster einer Gesellschaft oder Kultur aus. Auch die vielen literarischen Bilder, die die Stadt begleiten, zeugen davon: etwa jenes von der Stadt als Frau, gar als "Hure Babylon", als Maschine, als Irrgarten oder als Labyrinth.

Die Erfahrungen der Großstadt -Menschenmasse, Chaos, Lärm, Verbindungen, Isolierungen etc. - beeinflussten die Form des Romans. In diesem Zusammenhang immer wieder genannt: Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929). Epochemachend und zur (auch amüsanten!) Lektüre immer noch und immer wieder zu empfehlen: James Joyce' Roman "Ulysses" (1922), in dem Leopold Bloom einen Tag lang - am 16. Juni 1904 - durch Dublin streift und denkt.

Die Stadt ist unübersichtlich - und deswegen eine Herausforderung für die literarische Gestaltung. "Es ist gerade deshalb immer so schwierig, genau zu erfahren, was geschieht, weil so viele historische Schichten und einander überrollende Wogen impliziert sind", schrieb Michel Butor einmal und wollte in seinem Roman "Der Zeitplan" (1957) diesem Phänomen stilistisch Rechnung tragen, indem er seinen Text wie einen Kanon mit Umkehrungen und Spiegelungen komponierte und verschiedene Zeitebenen und Erinnerungen ineinander verschachtelte.

Desorientierung begleitet die Großstadt-Erzählungen von Anfang an -im berühmten Londoner Nebel geschahen Verbrechen, verschwanden Menschen. Die Stadt als künstliches, undurchschaubares System von Zeichen und die Unlesbarkeit dieser Zeichen sind bis heute Thema geblieben, im multimedialen Zeitalter erst recht, nachzulesen auch bei Thomas Pynchon. Der Gang durch die Stadt wird zum semiotischen Abenteuer, etwa in Paul Austers Roman "Stadt aus Glas" (1985), in dem auch die Identität zur Frage wird. Der Stadtroman als Kriminalroman, als Detektivgeschichte - und am Ende klärt sich oft nicht viel auf.

Zeichen und Details, etwa aus Papier gefaltete Füchse, spielen auch eine Rolle in Sandra Gugićs auffälligem Debütroman "Astronauten" (C. H. Beck 2015). In einer namenlosen Stadt, die Züge vieler Städte trägt, treiben sechs Figuren recht einsam und verloren umher, mit Sehnsucht nach Begegnung, begleitet von der Schwierigkeit zu kommunizieren. Ein Ausschnitt aus dem Leben von sechs Menschen, Jugendlichen und Erwachsenen, ein Sommer, in dem im Leben dieser Menschen irgendetwas passieren wird. Da ist der wütende Zeno, sein Freund Darko, dessen Vater Alen, ein Taxifahrer, der seit vielen Jahren an seinem Buch schreibt und ein Verhältnis mit Mara, der Freundin der beiden Jugendlichen, beginnt, Niko, ein Polizist und Vater eines kleinen Kindes, und Alex, ein Junkie. Sechs Leben und Perspektiven bzw. Perspektivlosigkeiten als kleine Ausschnitte einer großen Stadt.

Die Protagonistenperspektiven wechseln von Kapitel zu Kapitel, die Figuren beschreiben sich immer mehr gegenseitig - so entsteht Verflechtung, selbst wenn sie einander gerade nicht begegnen; so baut sich eine Spannung auf, denn man ahnt: Da könnte etwas schiefgehen. Da könnte vielleicht aber doch etwas gelingen.

Gelungene Vielstimmigkeit

Die Schwierigkeit bei solchen Stadtkonstruktionen liegt vor allem darin, jeder Figur ihren eigenen Stil zu geben, die Vielstimmigkeit ästhetisch herzustellen. Das gelingt hervorragend in einem wichtigen Großstadtroman aus Ghana, der bereits 1986 unter dem Titel "Search Sweet Country" und 1995 in deutscher Übersetzung als "Die Sonnensucher" erschienen ist und nun in der Edition Büchergilde neu aufgelegt wurde. Kojo Laing bringt darin Vielstimmigkeit dialogisch und szenisch überbordend und überaus witzig zur Sprache. Märchen und Politik, Wissenschaft und Alltag treffen aufeinander. Einen roten Faden zwischen den vielen Figuren, Gesprächen und nicht minder skurrilen Szenen knüpft Beni Baidoo, der mit seinem Esel unterwegs ist und ein neues Dorf bauen will.

Der Roman spielt im Jahr 1975, also in der Zeit, nachdem Ghana 1957 als ehemalige Kolonie seine Unabhängigkeit erlangt hat. Ernüchterung ist spürbar, Korruption und eine Polizei, die versucht, Demonstranten zu kaufen - mit Essen.

Auch wenn der Name der ghanaischen Hauptstadt immer wieder fällt, wird Accra gar nicht beschrieben als Konglomerat von Häusern, Straßen, Plätzen. Stadt sind hier die Figuren selbst und was sie reden (in verschiedenen Dialekten) und was sie tun: "Beni Baidoo war Accra."

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