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Ein Drittel der historisch wertvollen Altstadt von Peking wurde bereits abgerissen und musste modernen Hochhäusern weichen.Verzweifelte Bürger sehen in Selbstverbrennungen die letzte Möglichkeit eines wirksamen Protests.

Mit Äxten schlagen die Arbeiter der Abrisskolonne die Haustür ein. Polizisten stürmen ins Haus, greifen sich den Großvater und seine Schwiegertochter, zerren sie heraus auf die Straße. Der Sohn Wang Baoguang wehrt sich, bleibt im Haus zurück. Verzweifelt greift der 35-Jährige zu einem Kanister, schüttet Benzin über sich und zündet sich an. Es ist sein letzter Protest, 65 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Seit einem halben Jahr wehrt sich die Familie vergeblich gegen den Abriss des Pekinger Hofhauses, das sie seit mehr als 200 Jahren bewohnt.

Es ist bereits die dritte bekannt gewordene Selbstverbrennung wegen eines Umsiedlungsprojekts in China in nur zwei Wochen. Erst Mitte September hatte sich ein Bauer auf dem Tian'anmen-Platz in Brand gesteckt. Aus Nanjing wurde eine ähnliche Selbstverbrennung gemeldet. "Das ist unser Zuhause. Wir leben hier seit Generationen", klagt Wang Suhua, die Schwester des Verbrennungsopfers, der die fünf Familienmitglieder aus drei Generationen mit seinem nicht lizenzierten Taxi ernährt hatte. "Ich lebe hier, seit ich geboren bin", sagt Wang Suhua. "Wir können uns keine andere Wohnung leisten."

"Hier ist die Mafia am Werk!"

Etwa 400 bis 500 Familien müssen dem Bauprojekt weichen, das die Entwicklungsgesellschaft in Kooperation mit lokalen Stellen im Osten Pekings hochziehen will, um von dem boomenden Immobilienmarkt zu profitieren. Mehrere Dutzend Familien fanden die Entschädigung nicht ausreichend. Andere verschafften sich vermutlich über gute Beziehungen höhere Zahlungen. "Hier ist die Mafia am Werk", glauben einige der Familien. Als sie mit einer Klage vor Gericht drohten, habe ihnen die Entwicklungsgesellschaft beschieden: "Wir haben keine Angst. Verklagt uns. Wir haben unsere Leute ganz oben."

Das Vorgehen ist keineswegs ungewöhnlich, sondern symptomatisch. Überall in Peking werden heute ähnliche Geschichten erzählt. Immer wieder gibt es Proteste vor der Stadtregierung. Ein Drittel des alten Stadtkerns ist nach Schätzungen schon abgerissen worden. Zehntausende der alten Hofhäuser sind weg. Sie mussten modernen Hochhäusern, Bürokomplexen, Einkaufsplazas, und Straßen Platz machen.

Meist reichen die Entschädigungen nicht. Viele müssen ihre Ersparnisse aufbrauchen. Das neue Zuhause wird dann ein anonymer Betonblock in einem abgelegenen Vorort. Manche glauben, dass der Umzug der Preis des Fortschritts sei und freuen sich über bessere sanitäre Anlagen. Sie verlieren aber das soziale Umfeld, vereinsamen und vermissen den "nächsten Nachbarn, der mehr bedeutet als ein entfernter Verwandter", wie ein Sprichwort sagt. Nach einer Umfrage in den modernen Großstädten Chinas kennt nur noch jede zweite Familie die Namen ihrer Nachbarn.

Experten beklagen, dass Chinas Hauptstadt ihr historisches und kulturelles Gesicht verliert. Doch gesellschaftlich hat das Geschäft mit dem Abriss und Neubau seine Grenzen erreicht, wie die zunehmenden Proteste zeigen. Aus Angst vor größeren Unruhen eilte im Fall von Wang Baoguang der Gemeindevorsteher in das Abrissgebiet und sicherte die kostenlose medizinische Behandlung des Schwerverletzten. Der Abriss des Hauses wurde gestoppt - vorerst.

Einer, der den Kampf gegen Schaufelbagger, Planierraupen und Presslufthämmer mit einer ungewöhnlichen Waffe aufgenommen hat, ist Lu Baohua. Der 71-jährige Pensionist liefert sich auf seinem alten Fahrrad und einer einfachen Kamera ein aussichtsloses Wettrennen mit den Bautrupps. "Manchmal komme ich zu einem prachtvollen Gebäude zurück, das ich erst vor Monaten fotografiert habe, und es ist weg."

Seit vier Jahren knipst Lu die so genannten Hutongs, die kleinen, engen Gassen mit einstöckigen Wohnhäusern, die nach Ansicht der Regierung nicht mehr ins Bild des modernen China passen.

Bedrohtes auf Zelluloid

62 Quadratkilometer der bedrohten Altstadtviertel hat Lu bereits auf Zelluloid gebannt und mit Rotstift auf einem riesigen Stadtplan markiert. Von seiner mageren Pension leistet sich der frühere Künstler teure Filme, um "der Menschheit einen Kulturschatz zu bewahren". Zur Stärkung gönnt sich Lu in einer Garküche auf der Straße nur ein paar gefüllte Dampfnudeln mit einer Schüssel Brei, eine Flasche Wasser bringt er von zu Hause mit. Sein ehrgeiziges Projekt geht der Fotograf mit akribischer Liebe zum Detail an. Hunderte Fotos zeigen architektonische Eigenarten der in verschiedenen Stilen gebauten Häuser, die ausführlichen Notizen füllen ganze Bücher.

Werbung statt Kalligrafie

Lus Begeisterung wird sichtbar, wenn er die von Meisterkalligrafen gepinselten Verse auf den Hauswänden erklärt. Mit den Schriftzeichen bekannten sich die Bewohner zu ihren Lebenszielen wie "Erfolg im Handel" oder "Mildtätigkeit gegenüber anderen". Lu erklärt die Jahrhunderte alte Tradition: "Daran konnten

ihre Nachbarn sie immer messen. Das war wirkliche Offenheit." Diese schlägt sich auch in der weit verbreiteten Bauweise rund um einen gemeinsamen Innenhof nieder. Die künstlerischen Schriftzüge über den Eingängen machen Peking zu einer "riesigen Kalligrafie-Ausstellung, die Fertigkeiten zeigt, die heute nicht mehr erreicht werden". Auf den Hochhäusern an den betonierten Boulevards prangen dagegen nur noch Werbesprüche - immer öfter auch in lateinischen Buchstaben.

Die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele in fünf Jahren hat die Entwicklung verschärft: Die Stadtplaner wollen Peking für die prestigeträchtige Großveranstaltung rüsten. Für verwinkelte Gassen, in denen fliegende Händler laut ihre Waren anpreisen und Reistöpfe auf der Straße dampfen, ist kein Platz mehr. Nur auf den Fotos von Lu werden sie einmal noch zu besichtigen sein.

Die Autoren sind Korrespondenten der Deutschen Presse Agentur und von Agence France Press.

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