Denkmal des bürgerlichen Zeitalters

Werbung
Werbung
Werbung

Ein keineswegs programmierter Welterfolg: Thomas Manns Kaufmannssaga "Buddenbrooks" erschien erstmals vor 100 Jahren

Meine Kindheit war gehegt und glücklich. Wir fünf Geschwister wuchsen auf in einem eleganten Stadthause ... und erfreuten uns eines zweiten Heims in dem alten Familienhaus bei der Marienkirche, das meine Großmutter väterlicherseits allein bewohnte und das heute als ,Buddenbrook-Haus' einen Gegenstand der Fremdenneugier bildet", schreibt der Schriftsteller Thomas Mann. Und tatsächlich: Kaum einer der vielen Besucher Lübecks - der vielgerühmten "Königin der Hanse" - versäumt es, in diesem reizvollen, spätbarocken Gebäude den weltbekannten Mitgliedern der Romanfamilie seine Aufwartung zu machen. Nicht allein aus Neugierde, sondern wohl auch mit dem Wunsch, lange bekannten, geliebten Menschen wieder zu begegnen.

Im Oktober 2001 sind es genau 100 Jahre, dass der damals 26-jährige Thomas Mann die zweibändige Erstausgabe der Lübecker Kaufmanns-Saga "Buddenbrooks", deren Welterfolg keineswegs programmiert schien, in Händen hielt. Anfänglich von ihm selbst als "Privatvergnügen von geringen Weltaussichten" eingestuft und im ersten Jahr ohne wesentlichen Erfolg, konnte das im S. Fischer Verlag erschienene Buch nach einigen Jahren bereits eine Auflage von 35.000 Exemplaren verzeichnen, die 1920 auf 100.000 anstieg. Als Thomas Mann 1929 den Nobelpreis erhielt, erreichten die "Buddenbrooks" als einziges Werk eines lebenden Autors die Millionengrenze, was nicht zuletzt auf die Idee einer einfachen "Volksausgabe" des Erfolgsbuches - als sensationellem Novum - zurückzuführen war.

Katia Mann, die Münchner Ehefrau des Schriftstellers, erzählt dazu: "Fischers Druckerei kam bald mit dem Drucken und Nachdrucken nicht mehr nach; kleine Druckereien in der Provinz mussten einspringen ... Eine Autokolonne von vierzig Lastwagen belieferten am Erscheinungstag die Buchhandlungen Berlins ... Es war ein gigantischer Erfolg. Aber Fischer wollte es nicht hören." Und Thomas Mann, hochbegabter Senatorssohn aus Lübeck, hatte seinerseits ebensowenig von einer radikalen Kürzung des "viel zu umfangreichen" Manuskriptes hören wollen, auf der Samuel Fischer hartnäckig aber vergeblich bestanden hatte. Ein Beweis dafür, dass auch die Spürnase eines noch so cleveren Verlegers durchaus dann und wann danebenschnüffeln kann. Der später gern zitierte Satz bewahrheitete sich: "Dieses Buch wird wachsen mit den Jahren und noch von Generationen gelesen werden."

In den "Buddenbrooks" schildert Thomas Mann in objektiver Distanz ein soziologisches Phänomen des 19. Jahrhunderts: Glanz und Untergang des Patriziertums, das einer vitaleren und vielleicht auch rücksichtsloseren Gesellschaft weichen muss - der kapitalistischen Unternehmerschicht der Gründerjahre.

Und der junge Autor siedelt seine Familiensaga im Haus der Großmutter in der Lübecker Mengstraße an, einem sehr würdig-alten Gebäude, 1758 umgebaut und mit der vielsagenden Aufschrift "Dominus providebit" - der Herr wird es fügen - versehen.

Glücklicherweise hat die schöne Rokoko-Fassade die Bomben des 2. Weltkrieges überlebt, und Thomas Mann konnte ihr 1953 - nach langem Exil in den USA - "mit dem Gefühl letzten Wiedersehens", als Überbleibsel der Hausruine Mengstraße 4, einen wehmütigen Besuch abstatten. "Ich gestehe", schreibt er, "dass ich mich vor den deutschen Trümmern fürchte - den steinernen und den menschlichen". Er lässt sich mit seiner Frau in Kirchberg am Zürichsee nieder, wo er bis zu seinem Tod lebt.

Heute konkurriert das neu adaptierte Buddenbrookhaus im Besitz der Hansestadt als Sitz des Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrums und Gedenkstätte mit Events aus verschiedenen literarischen Bereichen erfolgreich mit den Glanzbauten nordischer Backsteingotik Lübecks, dieser ehemaligen Kaufmannsmetropole, die von der UNESCO längst in die Liste der "Denkmäler des Kulturerbes der Menschheit" aufgenommen wurde.

Seit dem Jahr 2000 - zum 125. Geburtstag Thomas Manns (1875 bis 1955) - beherbergt das Literaturhaus auch die Dauerausstellungen "Die Manns - eine Schriftstellerfamilie" und "Die Buddenbrooks' - ein Jahrhundertroman". "Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns - nicht nur über Einzelne von uns - schreiben." Diese Einschätzung des ältesten Sohnes von Thomas Mann, Klaus Mann, hat sich als durchaus weitsichtig erwiesen. Gehören die "Manns" und die "Buddenbrooks" doch heute zum Hauptforschungsgebiet des Literaturzentrums im Hause Mengstraße 4.

Im "Neuen Buddenbrookshaus" sieht sich der Besucher an historischem Ort mit einer umfassenden Fülle museal-medial vermittelter Schicksalhaftigkeit, Abenteuerlichkeit, mit wehmütigem aber auch kuriosem Informationsmaterial umgeben - dem "Landschaftszimmer" und "Speisesaal", Hannos Schaukelpferd aus dem Buddenbrookfilm (1959, 1979), den Originalstimmen und Filmaufnahmen der Manns ..., die die Lebenswege dieser "Jahrhundertfamilie" und ihre widersprüchliche Geschichte spannungsvoll dokumentieren. Wo gibt es einen zweiten Familienclan, in dem so viele geistreiche Frauen und Männer ihre Zeit in derart bewegten Prinzipien und Temperamenten verarbeitet haben? Die ungleichen Brüder Heinrich und Thomas markieren den Beginn des Weges dieser "amazing family", die Literaturwissenschafter, Historiker, Soziologen und Filmemacher gleichermaßen gefesselt hat.

Dem zwangsverordneten Lerneifer im Lübecker Gymnasium entziehen sich die beiden Träumer durch frühe literarische Versuche und musikalische Visionen; und es wundert kaum, dass Thomas gleich zwei Klassen wiederholen muss. Sein Abgangszeugnis zur Mittleren Reife glänzt durch peinlich mäßige Noten wie "noch befriedigend" oder "befriedigend" in Grammatik und Deutsch (!), was seine musisch-beherzte, halbbrasilianische Mutter Julia da Silva Bruhns kaum, den dominanten Senator Thomas Johann Mann, den "mit furchtsamer Zärtlichkeit geliebten Vater", bitterhart getroffen haben muss.

Auch wenn die beiden ältesten Söhne aufgrund aufoktroyierter kaufmännischer Schulung Lübeck schon in jungen Jahren verlassen, bleibt die Heimat in ihren Büchern stets wach. Die Hafengegend zum Beispiel pulsiert in Heinrich Manns "Professor Unrat" - verfilmt mit "Blauem Engel" Marlene Dietrich und ihrem sinnlichen Phlegma auf weltberühmten Beinen, die hanseatischen Bauten und Traditionen oder auch der "vor Wohlanständigkeit geradezu stinkende Lebensstil" der Kaufleute werden unter anderem in den "Buddenbrooks" lebendig.

Nach dem Tode des Senators, der die Familie alles andere als mittellos zurücklässt, zieht Julia Mann mit drei ihrer Kinder nach München, wo sie in Schwabing einen vielfrequentierten Salon eröffnet. Thomas folgt ihr bald und heimst dort ersten literarischen Ruhm ein. Sohn Heinrich führt ein ebenso schriftstellerisch-produktives, aber unstetes Leben. Unterschiedliche Meinungen und wohl auch der Zwang, sich dem erfolgreicheren jüngeren Bruder zu stellen, ergeben früh ein gewisses Konfliktpotential zwischen den beiden, obwohl sie sich wiederholt gemeinsam in Italien aufhalten. Hier entstehen unter anderem auch Thomas Manns "Der Tod in Venedig" (verfilmt von Luchino Visconti), "Doktor Faustus" oder auch die Anfänge der "Buddenbrooks".

"Er schrieb sehr langsam", erinnert sich Katia Mann, einst eines der umworbensten Mädchen Münchens, das das Abitur gemacht hatte und eine Doktorarbeit in Mathematik ins Auge fasste. "Von neun bis zwölf Uhr schrieb er, dann machte er einen Spaziergang ... Er konnte nur arbeiten, wenn sein Kopf ganz frei war ... Er schrieb alles mit der Hand, und wenn das am Tag zwei Seiten waren, so war es besonders viel." Das Manuskript der "Buddenbrooks" versiegelte Thomas Mann, trug es selbst zur Post und ließ es mit 1.000 Mark versichern, was dem Schalterbeamten schier den Atem raubte.

Katia erzählt: "Statt in seinen Büchern frei zu erfinden, fand er lieber seine Schauplätze und auch die Charaktere seiner Personen. Dann beseelte er sie mit seinem Künstlertum. Wenn er an einem Manuskript arbeitete, vertiefte er sich ungeheuerlich in den jeweiligen Gegenstand ... verschaffte sich alles Wissenswerte ..., doch sowie das Buch fertig war, hatte er alles bald wieder vergessen. Ein Phänomen."

Spielen die "Buddenbrooks" auch im Lübecker Mann-Haus, so schwanken sie dennoch zwischen Realität und Fiktion. Dabei sind das Rathaus, in dem Thomas Mann 1955 die Ehrenbürgerurkunde erhielt - was ihn tiefer berührte als die insgesamt neun Ehrendoktorwürden, mit denen er bedacht wurde -, die St. Marienkirche, das Stadttheater oder der Getreidespeicher wesentlich mehr als nur authentische Kulissen. Sie sind Zeugnisse hanseatischen Lebens, aber auch schicksalsträchtige Begleiter einer Familie mit Kultcharakter.

"Thomas Buddenbrook, von dem man meistens glaubt, er sei nun einfach ein Porträt von Senator Mann, ist auch das natürlich nicht. Es geht alles durcheinander ..., und wir wussten auseinander zu halten schon relativ früh. Die Familiengeschichte der Manns stand uns nicht sehr nahe, das Buch stand uns näher", sagt Erika Mann, Thomas Manns älteste Tochter. "Als ich vor dem Grab meines Großvaters in Lübeck stand", erinnert sich Golo Mann, eines der sechs Kinder Thomas Manns, ebenfalls bekannter Historiker und Schriftsteller, "war es doch mein Gefühl, eigentlich vor dem Grabstein von Thomas Buddenbrook zu stehen".

Der ständig zunehmende Ruhm des Vaters belastete Thomas Manns Kinder, alle intelligent und vielfältig interessiert. Auch nach dem Tod des großen Schriftstellers war es für sie nicht einfach, so ohne weiteres damit umzugehen. Erika, Lieblingstochter und selbst erfolgversprechende Schriftstellerin und Schauspielerin, fühlte sich nach eigener Aussage "nur noch als bleichen Nachlassschatten", Golo verbarg vor sich selbst lange Zeit, "dass ich im Grunde zum Schriftsteller bestimmt war". Zwei der Söhne wählen den Freitod. Heute ist nur mehr Elisabeth, Physikerin, am Leben. Die Enkelgeneration der einstigen Großfamilie ist über die ganze Welt verstreut. Verfolgt man die Geschichte der Familie Mann, so fällt auf, dass ihre Mitglieder an den unterschiedlichsten Orten der Welt gelebt und gewirkt haben. In zunehmenden Maße entstehen Gedenk- und Forschungsstätten an historischen Plätzen.

Auf seinen weltberühmten Roman "Buddenbrooks" zurückblickend sprach Thomas Mann ohne jeden Abschiedsschmerz vom scheidenden bürgerlichen Zeitalter. Er betrachtete sich als einen der Letzten einer großen Epoche - aber er wusste: "So lange Menschen meiner gedenken, wird ihrer gedacht sein."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung