Der Film als Vision hat AUSGEDIENT

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Die Diagonale in Graz ist keine Werkschau mehr, sondern ein Raum für - gesellschaftliche und künstlerische - Erfahrung.

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Die Diagonale in Graz ist keine Werkschau mehr, sondern ein Raum für - gesellschaftliche und künstlerische - Erfahrung.

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Ein kleines Mädchen steht am Zaun und beobachtet, wie gerade etwas Weltbewegendes passiert. Etwas Weltbewegendes, zumindest für ihr Leben und für das Hunderttausender anderer. Die Russen kommen! Sie stehen schon länger vor den Toren Wiens, in diesen letzten Kriegstagen des Jahres 1945. Das kleine Mädchen heißt Christine, es lebt in einer ausgebombten Stadt in einem, nun ja, noch besser erhaltenen Eck; das freistehende Haus mit Garten werden die Russen schon bald für ein Kommandoquartier okkupieren, aber eigentlich wird dort nichts kommandiert, sondern nur Wodka gesoffen.

Die kleine Christine in Mirjam Ungers Verfilmung von Christine Nöstlingers Buch "Maikäfer flieg", ist Nöstlinger selbst; sie schildert in ihrem Roman die bewegten Kindheitstage in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sich vor allem auf Entbehrung reduzieren lässt, sofern man den Krieg heil überlebt hat. "Maikäfer flieg" wird die Diagonale in Graz eröffnen. Das österreichische Filmfestival steht nach dem Abgang von Leiterin Barbara Pichler vor einer Neuausrichtung, und auch wieder nicht. Es ist eine Stunde Null, in der das junge Duo Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber (vgl. Interview umseitig) die Leistungsschau des österreichischen Films übernehmen. Es gilt, die Tradition mitzunehmen und um neue Perspektiven zu erweitern. Also auf etwas "aufzubauen".

Unter der dünnen Oberfläche

Ganz ähnlich ist die Lage für Christine in "Maikäfer flieg": Das Kriegsende bedeutet eine Art Zäsur in ihrem Leben und im Leben ihrer Familie, ja, der ganzen, neu geborenen österreichischen Nation. Es gilt, einen neuen Staat aufzubauen, und zwar aus den Trümmern des alten. Dass da Spuren von früher zurückbleiben, erleben wir seit 1945 tagtäglich: Noch immer ist die NS-Vergangenheit des Landes nicht lückenlos aufgearbeitet und füllt in unterschiedlichsten Zugängen Medien, Bücher, Studiengänge, Menschlichkeitsvereine. Auf der Straße und im Wirtshaus gibt es (nicht erst) seit der Flüchtlingskrise wieder offen rechte Parolen und linke Entgegnungen. Jede Krise schabt die dünne Oberfläche vom Verarbeiteten, vom Wiedergutgemachten weg, als wäre sie bloß feiner Staub. Darunter liegt die Auseinandersetzung, die ihre Wurzeln in diesen ersten Nachkriegstagen hatte: Wie man mit dem "Oaschloch Hitler" umgegangen ist, und auch mit den "Scheiß Russen", das will Regisseurin Unger in ihrem dichten Ensemblestück, das zugleich als Kammerspiel funktioniert, aufschlüsseln. Dann und wann versteigt sie sich notgedrungen in klischeehafte Bilder, für die es bei Zeitgenossen, die nicht selbst dabei waren, aber keine Alternativen gibt: Das Ende eines Krieges bedeutet nicht nur Schutt und Asche auf der Straße, sondern auch in den Seelen - und in der Emotion ist jede noch so klischeebehaftete Handlung erlaubt.

Die Diagonale ist auch auf Null gestellt; freilich, sie hat keinen Krieg hinter sich und forderte auch keine Opfer. Aber sie wird sich jetzt als Neuausrichtung zwischen alten Werten zurechtfinden müssen. Den Bogen von der Nachkriegszeit zum Heute spannt das neue Führungsduo dabei scheinbar mühelos: Denn es möchte nicht den Charakter einer Werkschau vermitteln, in der jede noch so bemühte künstlerische Selbstverwirklichung gezeigt wird, sondern inhaltlich Akzente setzen. Es geht um gesellschaftlich für dieses Land relevante Zugänge, um ein Zeigen von sozialen Gefügen und Zuständen, um ein Aufspüren von Kunst, die sich an der Wirklichkeit reibt, nicht so sehr an Utopien.

Das ist durchaus ein Statement: Der Film als Vision hat ausgedient, er arbeitet sich hier hauptsächlich an den Widrigkeiten des Lebens ab, anstatt daraus zu entführen. Dafür ist inzwischen allein Hollywood zuständig. Das lässt sich im Programm recht deutlich ablesen, denn Schernhuber und Höglinger haben ein breites Kompendium des Filmschaffens versucht. Es gibt Spielfilme über Verzweiflungstaten ("Agonie", "Einer von uns"), junge Coming-of-Age-Dramen ("Beautiful Girl", "Chucks"), Flüchtlings-Schicksale ("Geschwister"), Kapitalismuskritik ("WinWin") oder ein Drama über Kriegsreporter ("Thank You for Bombing").

Bei den Dokumentarfilmen reicht der Bogen vom technisierten Blick auf den Lebensbeginn in künstlichen Reproduktionsverfahren ("Future Baby") über prekäres Heranwachsen ("Kinders") bis hin zu Geschichten von Entwurzelung und Identitätssuche ("Paradies! Paradies"). Am anderen Ende des Spektrums von "Maikäfer flieg" stehen also sehr heutige Problematiken des Zusammenlebens.

Auch Patrick Vollrath zeigt in seinem Oscar-nominierten Kurzfilm "Alles wird gut", wie Zusammenleben (nicht) funktioniert. Die Geschichte eines geschiedenen Vaters (Simon Schwarz), der seine achtjährige Tochter entführt, ist ein Spiegel für die heute alltägliche, mannigfache Beziehungsgestörtheit im familiären Umfeld. Vollraths Film fokussiert die Entwicklungen in den Formen des Zusammenlebens, die eine moderne Gesellschaft heute ausmachen; hier lässt sich die Brücke zu damals leicht schlagen: 1945 kreisten die Probleme um andere Lebensrealitäten als um Sorgerecht oder Obsorgepflicht. Die Probleme der Gesellschaft, sie verändern sich mit der Distanz zu Großereignissen und dem Aufkommen von Wohlstand.

Am Zaun stehen und zuschauen

Insofern hat die Diagonale 2016 eine weitere Brückenfunktion, in einer Zeit, in der wieder Zäune aufgestellt werden: Denn noch nie zuvor prallten zwei Lebensrealitäten im Land dermaßen abrupt und ungebremst aufeinander wie zurzeit: Hier die Wohlstands-Bewahrer, die ums Niveau ihres jahrzehntelang aufgebauten Lebensstandards besorgt sind. Dort die Flüchtlinge, denen es ähnlich geht wie den Menschen 1945, die ihr Heil aber nun in den für sie fremden Spielräumen des Westens suchen. Flüchtlinge und Einheimische stehen vor dem größten Kultur-Clash der jüngeren Geschichte, bei dem man sich aber irgendwann auf Augenhöhe treffen wird (müssen). Die Diagonale nimmt in zahlreichen Arbeiten darauf Bezug. Sie zeigt die Gesellschaft mit all ihren Schwachpunkten, Widersprüchen und Brüchen.

Egal von welcher Konfliktebene im Kino der Diagonale gesprochen wird, am Ende eint die Menschen unterschiedlicher Gesellschaften doch eine Gemeinsamkeit: Der Wunsch, dass es die eigenen Kinder einmal besser haben sollen. Warum sich dieses Verlangen trotz des Erreichens von materiellem und bildungsbedingtem Wohlstand über die Jahrzehnte nicht verändert, sondern im Gegenteil, sich beinahe noch gesteigert hat (weil auch die Fallhöhe größer wird), lässt Raum für Spekulationen an der menschlichen Natur. Mit dem Wohlstand wächst auch der Anspruch an die eigene Zufriedenheit. Die Armen, die Reichen, dazwischen die Gier; all das findet sich in diesem Diagonale-Jahrgang wieder. Es kann ein guter werden, ein relevanter, einer, der dem Kino im Allgemeinen und der Institution Festival im Speziellen das zurückgibt, was sie schon fast verloren hat: ein Raum der Erfahrung zu sein. Am Zaun zu stehen und zuzusehen, wie etwas Weltbewegendes passiert.

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