Ein Gott und viele Bitten
Würde Gott jederzeit direkt in der Welt eingreifen, um etwas zu realisieren bzw. zu verhindern, dann hieße das, dass die Welt für uns Menschen unberechenbar wird. Wir könnten nicht mehr von Naturgesetzen und Gesetzmäßigkeiten in der Welt reden. Dies wäre das Ende unserer Freiheit.
Obwohl Gott dies in seiner Allmacht tun könnte, sieht er davon ab, denn ihm ist offensichtlich die Freiheit des Menschen sehr viel wert. Er schränkt seine Handlungsfreiheit ein, um dem Menschen Raum dafür zu bieten. Das heißt jedoch nicht, dass Gott nach Erschaffung der Welt samt ihrer Gesetzmäßigkeiten sich völlig zurückgezogen hat und nur mehr ein Zuschauer ist. Wäre dies so, hätten unsere Bittgebete keinen Sinn.
Gott handelt in der Welt, indem er uns Menschen zu Ideen inspiriert, die unsere Handlungsoptionen erweitern. Ob wir diese Inspirationen annehmen, oder nicht, hängt von uns Menschen ab. Dadurch bleibt die Freiheit des Menschen bewahrt. Gott hört nicht auf, uns zu inspirieren. Und wenn wir seine Inspiration ablehnen und dadurch seine besten Absichten für uns zerschlagen, bringt er die zweitbeste Alternative für alle Beteiligten hervor und inspiriert uns erneut usw. Wir müssen nur diesen Ruf Gottes, seine Inspiration, entdecken und ernst nehmen.
John R. Lucas illustriert diesen Gedanken durch das Gleichnis von einem persischen Teppichknüpfer, der zusammen mit seinen Kindern an der Herstellung eines Teppichs arbeitet. In seiner Weisheit und Souveränität versteht es der Vater, alle Fehler, die seine Kinder verursachen, in kontinuierlicher Revision seiner idealen Projektvorstellung in das entstehende Muster zu integrieren und so ein vollendetes Design zu schaffen. Auf diese Weise geht Gott auf alle Bitten ein und würdigt zugleich die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen.
Der Autor leitet das Zentrum f. Islam. Theologie an der Uni Münster
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