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„Berg der Löwin“

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„Sierra Lionna — das ist der Name einer Bergkette, eines Reiches und eines Flusses“, schrieb 1686 der holländische Geograph Olfert Dapper in seiner „Beschreibung Afrikas“. „Eigentlich bedeutet dieses spanische Wort nur .Berg der Löwin“. Der Ursprung dieses Namens ist aber, daß die Wellen, die gegen eine der Klippen an dieser Küste donnern, einen Lärm erzeugen, der sehr weit vernehmbar und überaus ähnlich dem Brüllen einer Löwin ist.“

Das Land an der westafrikanischen Küste, das unter diesem Namen am 27. April 1961 der 28. unabhängige Staat Afrikas geworden ist, war den europäischen Seefahrern zur Zeit Dappers schon länger als 200 Jahre bekannt. Zwischen 1460 und 1462 hatten die Karavellen mit dem achtzackigen Kreuz der Christusritter, die

Heinrich der Seefahrer zur Erkundung des Seeweges nach Indien ausgesandt hatte, diesen Teil der Guineaküste erreicht. Bald nachher hatte im Inland, als sich der Fulbeführer Koli Tengela das Hochland von Futa Djal- lon (im Nordteil des heutigen Staates Guinea) unterwarf, eine Völkerwanderung stattgefunden, die einen Teil der heute im Lande ansässigen Völkerschaften nach Sierra Leone brachte.

Die Handelsbeziehungen zwischen den Europäern und Eingeborenen waren imjener frühen Zeit vielfach wenig zivilisatorischer Natur. Schon 1476 schleuderte Papst Sixtus IV. den Bann gegen die Portugiesen wegen des Sklavenhandels in der Guinea — damals die Bezeichnung der ganzen westafrikanischen Küste. Von 1562 an datieren die Fahrten des englischen Kaufmannes John Hawkins nach Sierra

Leone, der von der spanischen Krone ein Privileg der Sklaveneinfuhr nach Amerika erhalten hatte. Eines seiner Schiffe führte den Namen „Jesus“. Die Bedeutung des großen Geschäftes in „schwarzem Elfenbein" überschattete bald den übrigen Handel, verwickelte die einheimischen Völker in gewinnversprechende Kriegszüge gegeneinander und dezimierte allmählich die Bevölkerung mancher westafrikanischer Küstenstriche. So mögen die Vorfahren vieler Afroamerikaner auch in Sierra Leone ihre Heimat gehabt haben. Um die Wende des 18. Jahrhunderts waren seine Küsten aber auch Schlupfwinkel der aus der karibischen See verjagten Piraten und Flibustiers, die hier den Schiffen der „ehrlichen Kauf fahrt“ auf lauerten. Die frühen Bemühungen der christlichen Afrikamission mußten ünter diesen Umständen zur Erfolglosigkeit verurteilt bleiben. Zwar nahm ein König der Temne, jenes im 16. Jahrhundert nach Sierra Leone eingewanderten Volkes, dessen Sprache heute mehr als ein Viertel der Bevölkerung des Landes sprechen, Bai Arama III. im Jahre vor seinem Tode, 1605, den katholischen Glauben an und nannte sich Don Filipe de Leao. Auch mehrere seiner Nachfolger waren Christen. Zahlreichen Vornehmen eines anderen Volkes der nördlich benachbarten Küste (im heutigen Guinea) verweigerte 1607 der Jesuit Emanuel Alvarez die Taufe, da er sie dafür nicht genug vorbereitet fand. Vom 17. Jahrhundert an begann das zur führenden Seemacht aufsteigende England abzulösen. 1618 erwarb eine britische Handelskompanie erstmals Landbesitz. Im angrenzenden Inland von Guinea begann etwas später die militante Ausbreitung des Islams durch die Fulbe-Theokratie von Timbo. Als nun neben katholischen auch protestantische und muslimische Einflüsse zunehmend- in das Land gelangten, wollte der Temne- herrscher Naimbanna die Frage, welcher der drei Konfessionen er sich anschließen sollte, nach der Staats- raison lösen und sandte zu diesem Zweck drei Gesandte nach Portugal,

England und der Türkei aus. Die Gesandten starben aber unterwegs, und die Frage der westafrikanischen „drei Ringe“ blieb so ungeklärt.

Grenzen der Mission

Die Missionserfolge sind auch bis in neueste Zeit zahlenmäßig begrenzt geblieben. 1959 zählte man bei mehr als einer halben Million meist im Norden und Westen des Landes lebender Muslime und mehr i s eineinhalb Millionen Anhängern von Stammesreligionen, rund 70.000 Protestanten, 19.000 Katholiken, allerdings 20.000 Katechumenen.

Neben den Temne, die zeitweilig ein von einer starken Zentralgewalt regiertes, größeres Reich bildeten, das aber im 19. Jahrhundert zerfiel, lebten die anderen Völkerschaften, wie Mende, Bulom, Limba und Susu in historisch bekannter Zeit in kleineren stammesstaatlichen Verbänden. Immerhin sind auch die im Osten des des Landes ansässigen Vai, deren Mehrzahl freilich in Liberia lebt, dadurch bemerkenswert, daß sie in neuerer Zeit zur Schreibung ihrer Sprache eine eigene Schrift erfanden. So bildet in der neueren Geschichte von Sierra Leone das Jahr 1787 einen Einschnitt, als eine britische Gesellschaft zur Bekämpfung der Sklaverei Land für eine Niederlassung freigelassener Sklaven erwarb: Hier entstand Freetown. Der 1808 entstandenen Kronkolonie wurde 1896 das Hinterland als Protektoratsgebiet angegliedert, das niit 80.400 Quadratkilometern etwa die Größe Österreichs hat und gegen 2,5 Millionen Einwohner zählt. Schon 1827 erstand hier Fourah Bay College, die älteste höhere Schule Westafrikas, die im Vorjahr LIniversitätsrang erhielt. Im 19. Jahrhundert blieb Sierra Leone das Verwaltungszentrum ganz Britisch-West- afrikas und die späteren, größeren Kolonien der Goldküste und Nigeria von ihm abhängig. Im Vergleich mit diesen ist der Prozeß der politischen Emanzipation der Nachkriegsjahre in Sierra Leone langsamer, aber auch ohne größere Erschütterungen verlaufen. Der Gegensatz zwischen dem Protektorat und der einstigen Kolonie, die 60.000 Afrikaner englischer Muttersprache beheimatet, scheint überwunden zu sein und die herrschende „Volkspartei“ über eine stabile Mehrheit zu verfügen. So sucht das neue Sierra Leone, das im Commonwealth verbleibt, keine Abenteuer; nach den Worten seines Premierministers Doktor med Sir Milton Margai, „will es sich der Unabhängigkeit zunächst einmal eine Zeitlang erfreuen“.

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