Kreuzzug - © Foto: picturedesk.com / British Library / Science Photo Library

Die Mär vom ach so Neuen

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Um 1500 hätten die Menschen in Europa begonnen, Neues zu entdecken. Mutige Forscher ließen die begrenzte mittelalterliche Welt hinter sich und brachen zu neuen Horizonten auf. Diese Erzählung liest man in Geschichtsbüchern bis heute, obwohl sie widerlegt ist.

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Um 1500 hätten die Menschen in Europa begonnen, Neues zu entdecken. Mutige Forscher ließen die begrenzte mittelalterliche Welt hinter sich und brachen zu neuen Horizonten auf. Diese Erzählung liest man in Geschichtsbüchern bis heute, obwohl sie widerlegt ist.

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Nach einer oft erzählten Geschichte hätten die Menschen in Europa um 1500 begonnen, Neues zu entdecken. Nachdem ihr Dasein zuvor jahrhundertelang von der Religion bestimmt worden sei, hätten sich italienische Gelehrte und Künstler nun dem Leben im Diesseits zugewandt und – nach dem Vorbild der Antike – ein neues Menschenbild entwickelt. Eine wesentliche Folge dieser „Renaissance“, so geht die Geschichte weiter, seien die Entdeckungsfahrten europäischer Seefahrer gewesen, die zur selben Zeit, die begrenzte mittelalterliche Welt hinter sich lassend, in unbekannte Gebiete vordrangen. Auch sie hätten sich auf antikes Wissen gestützt, aber auch neue technische Geräte wie das Astrolabium eingesetzt.

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Dank diesen Neuerungen sei es dem portugiesischen Prinzen Heinrich „dem Seefahrer“, dem Genuesen in spanischen Diensten, Christoph Kolumbus, und anderen Protagonisten des „Zeitalters der Entdeckungen“ möglich gewesen, ihre weltverändernden Vorhaben umzusetzen. Nachlesen kann man diese Erzählung, teilweise in denselben Worten, im aktuellen Geschichtslehrbuch des Österreichischen Bundesverlags für die dritten Klassen von Neuen Mittelschulen und Gymnasien, „querdenken 3“. Aber sie wird, mit anderen Ausschmückungen, auch in populärwissenschaftlichen Zeitschriften, Sachbüchern oder Fernsehdokus präsentiert. Demnach begann um 1500 etwas nie da Gewesenes, und dieses Novum kam in die Welt, weil mutige Forscher, befreit von den Fesseln religiöser Vorurteile, zu neuen Horizonten aufbrachen.

„Protokolonialismus“ in Pisa

Im Vergleich dazu wirkt der Aufbruch einer Schiffsflotte, die im Jahr 1015 von Pisa aus in See stach, eher unspektakulär. Die aufstrebende italienische Hafenstadt zog wieder einmal gegen die „Sarazenen“ in den Krieg: die muslimischen Seemächte, die das Mittelmeer unsicher machten. Diesmal ging es gegen den König von Denia, der Sardinien besetzt hatte. Ein Jahr später vertrieben die Pisaner mit ihren Verbündeten aus Genua die Sarazenen, und nachdem sie auch ihre Mitstreiter ausgebootet hatten, begannen sie, die rohstoffreiche Insel, besonders ihre Silbervorkommen, ökonomisch auszubeuten. 15 Tonnen des Edelmetalls sollen bis ins 14. Jahrhundert von Sardinien nach Pisa geflossen sein – pro Jahr! Ihren Reichtum stellten die Kaufleute in Monumentalbauten wie dem Dom mit seinem schiefen Campanile zur Schau. Aber das Gros der Gewinne reinvestierten sie in eigene Flotten, Handelsunternehmen und lukrative Kriegszüge, mit dem Erfolg, dass die Stadt am Arno zur Führungsmacht im Mittelmeer aufstieg.

Während sie mit ihren Flotten Kreuzfahrer nach Palästina brachten, trieben sie Handel mit unchristlichen Geschäftspartnern.

Michael Mitterauer hat gezeigt, dass das Handeln der Pisaner im 11. und 12. Jahrhundert wesentliche Elemente des Kolonialismus der Frühen Neuzeit vorwegnimmt. Da ist zunächst der Primat der ökonomischen Interessen, die sich in Pisa schon früh auch politisch durchsetzen konnten. Die Stadt zählt zu den ältesten Kommunen in Europa, in der die Kaufleute selbst das Regiment führten. Die Herrschaft über Sardinien blieb formell in den Händen der lokalen Kleinkönige, aber am Ende waren es die Visconti, die Gherardesca und andere Clans der Metropole, die über das Schicksal der Sarden entschieden.

Diese waren rechtlich benachteiligt, durften keinen Fernhandel treiben und arbeiteten in „quasiservilen Verhältnissen“, wie Mitterauer erklärt: „Das Wort ‚Bürger in Pisa, König auf Sardinien‘ nimmt manches vom Rassenhochmut späterer Kolonialherrengenerationen vorweg.“ Der Wiener Historiker sieht in Pisa daher einen „Protokolonialismus“ am Werk. Bei all dem spielte die Religion eine zentrale Rolle. Der Kriegszug von 1015 gegen die Sarazenen war auf Initiative des Papstes zustande gekommen. Benedikt VIII. hatte – schon ganz im Stil späterer Kreuzzüge – zum Kampf gegen „die Feinde Christi“ aufgerufen. In weiterer Folge legitimierten die Päpste die Vormacht der Pisaner über Sardinien wie auch über Korsika, indem sie die Inseln kirchlich dem Erzbistum Pisa unterstellten. Bis in die Frühe Neuzeit sollte sich an dieser Praxis wenig ändern. Als die portugiesischen und kastilischen Könige ihre Seefahrer zur „Entdeckung“ der Welt aussandten, vergaßen sie nie auf den päpstlichen Segen.

Auch die Eroberung von Ceuta im Jahr 1415 durch ein portugiesisches Ritterheer stand im Zeichen des Kreuzes. Der später zum „Seefahrer“ stilisierte Prinz Heinrich und seine Brüder schufen einen christlichen Brückenkopf im muslimischen Nordafrika. Aber sie hatten noch anderes im Sinn: In Ceuta endeten die Karawanen, die aus den Ländern südlich der Sahara Gold ans Mittelmeer brachten. Kaum hatten die Portugiesen die Stadt erobert, versiegte der Strom des gelben Metalls, das Portugals kapitalarme Wirtschaft so dringend benötigte. Daher begann der Prinz, Schiffe über den Ozean nach Süden zu schicken, um zu den Quellen des Goldes vorzustoßen – was nach zahllosen Versuchen auch gelang. 1457 konnte Portugal erstmals Goldmünzen prägen, die den sinnfälligen Namen „Cruzados“ erhielten: Kreuzträger. Bereits seit 1420 amtierte Heinrich als Großmeister des Christusordens, einer Nachfolge­Organisation der Templer. Der „Seefahrer“ betrat zwar nur selten das schwankende Deck eines Schiffes, aber er stand mit beiden Beinen in der Tradition der Kreuzzüge.

„Weltherrscher der Endzeit“

Er war nicht der Einzige. Auch andere Helden des „Entdeckerzeitalters“ handelten im Auftrag eines Höheren. So teilte Kolumbus die Überzeugung vieler Zeitgenossen, das Ende der Welt sei nahe. Wie der Genuese im „Buch der Prophezeiungen“ darlegte, wollte er mit seinen Ozeanfahrten der Wiederkunft Christi den Weg bereiten. König Manuel I. wiederum, unter dessen Ägide Vasco da Gama 1498 Indien erreichte, ließ sich in Fortschreibung mittelalterlicher Visionen zum messianischen Weltherrscher der Endzeit stilisieren.

Dass das „Zeitalter der Entdecker“ mit einer Abkehr von der Religion einhergegangen sei, kann man also nicht behaupten. Den Kreuzzügen verdanken die „Entdecker“ nicht nur ihre religiösen Ideale. In den knapp 200 Jahren zwischen der Eroberung Jerusalems durch ein Kreuzfahrerheer und dem Fall von Akkon 1291 dehnten die italienischen Seerepubliken, neben Pisa nun vor allem Genua und Venedig, ihre kommerziellen Aktivitäten enorm aus. Während sie mit ihren Flotten die Kreuzfahrer nach Palästina brachten, trieben sie eifrig Handel mit Arabern, Mamluken und anderen unchristlichen Geschäftspartnern. Dank diesen fand Europa Anschluss an das große asiatische Handelsnetz, das bis nach China und zu den Molukken reichte.

Damals entstanden laut Wolfgang Reinhard „bereits Prototypen der verschiedenen Kolonisations- und Handelsgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts“, und: „Vor allem stammt die Plantagenwirtschaft mit Zucker als edelstem Produkt und die zugehörige Sklavenwirtschaft aus Palästina und Zypern.“ Von dort wurde sie über Spanien, Portugal und die Atlantikinseln nach Amerika verpflanzt. Der kulturelle Austausch im Windschatten der Kreuzzüge brachte mannigfaltige Innovationen. Ab 1200 machte der Handelsgehilfe Fibonacci aus Pisa das Dezimalsystem, das er in den Häfen des Ostens schätzen gelernt hatte, in Europa populär. Den Kompass hatten italienische Seefahrer da längst von arabischen Kollegen übernommen. Auch andere Errungenschaften, die ab 1500 weltweit zum Einsatz kommen sollten, lagen im 13. Jahrhundert bereits vor, etwa die Seekarte, das Lotsenhandbuch, das Lot und das Astrolabium – Letzteres eine antike Erfindung, die ebenfalls über Arabien nach Europa gelangte. Und um 1230 schrieb Johannes de Sacrobosco, Dozent an der Universität Paris, seinen Traktat „Über die Sphaere“, in dem er die Kugelgestalt der Erde und deren Vermessung erörterte. Der Traktat avancierte rasch zum Standardwerk.

Kapital, Know-how und Geschäftsideen

Ganz so hilfreich waren die Beiträge der Renaissance-Gelehrten nicht immer. Als sie zu Beginn des 15. Jahrhunderts die „Geographie“ des Claudius Ptolemäus vom Griechischen ins Lateinische übersetzten, bedeutete das zunächst einen Erkenntnisrückschritt, zeichnete der antike Astronom doch den indischen Ozean als Binnenmeer. Dabei hatten genuesische Abenteurer bereits Ende des 13. Jahrhunderts, wenn auch erfolglos, versucht, Afrika im Süden zu umrunden. Warum also unternahmen die Europäer nicht schon 200 Jahre früher ihren großen Aufbruch ins Globale? Weil sie keinen zwingenden Grund hatten.

Über ihre Stützpunkte im Schwarzen Meer importierten die Italiener Seide und andere Waren des Orients. Erst als das Mongolenreich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zusammenbrach, versiegten diese Handelsströme. Unterdessen taten sich im Westen neue Perspektiven auf. Die Eroberungen der Portugiesen und Kastilier auf der iberischen Halbinsel öffneten den Seeweg in den Atlantik und verbanden den Handelsraum des Mittelmeers mit der Hanse im Norden. Immer mehr italienische Kaufleute ließen sich in Sevilla, Lissabon und Flandern nieder. Im Gepäck hatten sie Kapital, Know-how und jede Menge Geschäftsideen.

Der raue Atlantik erforderte einen anderen Schiffstyp. Diesen schufen keine Renaissance-Gelehrten, sondern namenlose Baumeister, indem sie in jahrzehntelangem Probieren mediterrane und nordische Traditionen verbanden: Es entstanden die Karacke und ihre kleinere Schwester, die Karavelle. Im selben Zeitraum revolutionierte das Schießpulver – auch ein Import aus dem Orient und von gleichfalls anonymen Alchimisten und Geschützgießern zu einer Waffe von unerhörter Zerstörungskraft fortentwickelt – das Kriegswesen. Die Kombination von „Segeln und Kanonen“, wie der Historiker Carlo M. Cipolla formuliert hat, brachte dann tatsächlich etwas nie da Gewesenes. Das sollten die panischen Reaktionen der Anrainer des Indischen Ozeans, der Westküste Amerikas und der übrigen Gestade bezeugen, an denen europäische Schiffe bald danach aufkreuzten.

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