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„Das Buch mit sieben Siegeln“

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Mit seinem letzten bedeutenden Werk, das 1935 bis 1937 entstanden ist, machte Franz Schmidt den Versuch, die Apokalypse zusammenhängend zu vertonen. Er nahte sich dem Text, wie er selbst bekannt hat, als tiefreligiöser Mensch und als Künstler. Bereits 1938, als das große Werk in Wien uraufgeführt wurde, empfand sein Schöpfer die Aktualität der Offenbarung des Johannes besonders stark. Sie den zeitgenössischen Hörern durch die Sprache der Musik erneut nahezubringen, sah der Komponist als seine oberste Aufgabe an. Natürlich mußte der umfangreiche Text reduziert werden. Dies geschah vor allem durch eine größere Elision zwischen dera' sechsten und siebenten Siegel und durch die Zusammenziehung der Briefe des Johannes an die sieben Gemeinden in eine „Begrüßungsansprache", welche das Werk eröffnet. Im wesentlichen aber entspricht der Aufbau des Oratoriums dem der Vorlage. Der Komponist selbst hat den Handlungsablauf folgendermaßen dargestellt:

„Der dem Prolog im Himmel folgende erste T eil des Werkes bringt die Lösung der ersten sechs Siegel durch das Lamm: die Geschichte der Menschheit wird vorauserzählt. Nach segens- und hoffnungsreicher Ausbreitung der christlichen Heilslehre durch den weißen Reiter (Jesus Christus) und seine himmlischen Heerscharen verfällt die Menschheit in Nacht und Wirrsal. Der blutrote Reiter überzieht die Welt mit seinen höllischen Heersdiaren und stürzt die Menschheit in den Krieg aller gegen alle. Der dritte und der vierte apokalyptische Reiter führen weiterhin die Folgen des Weltkrieges vor: Hungersnot und Pest. Die Menschheit ist zum größten Teil zugrunde gegangen und in Verzweiflung versunken: nur ein kleiner Rest hält noch am Glauben fest. Beim Aufbrechen des fünften Siegels treten die Seelen der Glaubensmärtyrer und anderer Opfer menschlicher Verbrechen in Erscheinung. Sie rufen nach Gerechtigkeit und Vergeltung. Der Herr heißt sie noch ausharren und verspricht ihnen Gerechtigkeit am Tage des großen Gerichtes. Da der größte Teil der noch übrigen Menschheit auch weiterhin in Sünde und Verstocktheit verharrt, vertilgt sie der Herr durch Erdbeben, Sintflut und Weltbrand, was durch da Aufbrechen des sechsten Siegels offenbar wird. Der zweite Teil beginnt mit der großen Stille im Himmel, die beim öffnen des siebenten Siegels eingetreten ist. Während dieser Stille erzählt uns Johannes gleichsam in Paranthese die Geschichte des wahren Glaubens und seiner Kirche von der Geburt des Heilands angefangen, von ihren Kämpfen gegen die Anhänger des Teufels und deren falsche Lehren und von ihrem endgültigen Sieg. Nach dem großen Schweigen im Himmel, das bis an das Ende aller irdischen Zeit während anzunehmen ist, rüsten die sieben Posaunenengel zum Blasen des schauerlichen Appells für das Jüngste Gericht. Über dieses selbst berichtet

Johannes wie im Original nur kurz, um aber um so eindringlicher darzulegen, daß die Weltenwende angebrochen sei, daß nunmehr eine neue Erde jene trage, die das ewige leben haben, und daß ein neuer Himmel über ihnen blaue. Und der Herr spricht zu den Geläuterten, daß er mit ihnen wohnen und sie sein Kinder sein und er ihr Vater sein werde Nachdem die Geläuterten dem Herrn mit Halleluiah gedankt und gehuldigt haben, schließt Johannes seine Offenbarung mit einer kurzen erläuternden Abschiedsansprache ab.“

Der großzügigen und geschlossenen Anlage des Textes entspricht auch die musikalische Gestaltung. Wie zwischen Zwei Eckpfeilern spannt sich der musikalische Bogen von den Begrüßungs- zu den Schlußworten des Evangelisten mit dem „Amen" des Chors. Dreimal erschallt die Stimme des Herrn: gleich zu Be-

ginn, etwa in der Mitte des Werkes zur Besänftigung des Aufruhrs im Himmel und gegen Ende zur Verkündigung der Heilsund Gnadenbotschaft. Besondere Bedeutung kommt den Chören zu, denen drei dramatische Höhepunkte zugewiesen sind in der Form gewaltiger Fugen, unter welchen die große Quadrupelfuge („Zornfuge“) im zweiten Teil hervorragt. Die in zeitgenössischen Oratorien häufig vorkommenden Orchesterzwisdienspiele sind durch großangelegte und markante Inter- ludien der Orgel ersetzt, die in dem ganzen Werk eine bedeutende Rolle spielt. Die vier Solostimmen werden einzeln sowie in Duo-, Quartett- und Ensemblesätzen verwendet. Das große Orchester begleitet in hochdramatischem Stil und hat auch tonmalerische Aufgaben zu lösen, so bei der Schilderung von Krieg, Sturm und steigender Meeresflut und beim Blasen der letzten Posaune.

Zum organischen Ganzen aber wird das Werk durch eine Reihe musikalischer Bezüge, durch welche weit auseinanderliegende Teile miteinander verknüpft werden und jedes Detail seinen besonderen Sinn und seine tiefere Bedeutung empfängt. Obwohl der Komponist sich außer der Fuge kaum hergebrachter Formen bedient, treten uns eine ganze Reihe geschlossener, meist dreiteiliger Sätze deutlich entgegen. Markante Themen, die man geradezu als Leitmotive bezeichnen könnte, verbinden die einzelnen Teile. Besonders sinnvoll handhabt Schmidt die Umkehrung und Verarbeitung seiner Themen und legt damit — mehr noch als in den meisten seiner vorhergegangenen Werke — Zeugnis eines hochvergeistigten und verantwortungsbewußten Kunststrebens ab. So entschleiert sich, was zunächst als tonmalerische, musikdramatische Wirkung erscheinen mag, als streng gesetzmäßig und durchdacht. Als Bekenntnis zum sakralen Stil der Gregorianik ist auch der nur drei Töne umfassende, im Unisono geführte Dankchor der Männerstimmen aufzufassen, der als letzter Ensemblesatz vor dem Abgesang des Johannes kurz vor dem Ende des Werkes erklingt.

Das Oratorium von Schmidt wird zum erstenmal seit Kriegsende im vierten Chorkonzert der Konzerthausgesellschaft aulgeführt. Der junge Dirigent Anton Heiller hat das schwierige Werk einstudiert, die Wiener Symphoniker, Staatsoperchor, Akademiekammerchor, Wiener Singakademie, eine Reihe berufener Solisten und Kurt Rapf an der Orgel werden bei der Aufführung Zusammenwirken.

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