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Die Kranken helfen mit

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ES BEGANN IN DER LUFT. Von Leonard Cheshire. Räber-Verlag, Luzern. 200 Seiten. Preis 13.80 DM.

Das Viktoria-Kreuz wird nur in Anerkennung von Taten verliehen, die zugleich den höchsten Grad an Selbstaufopferung und eine weit über den zu erwartenden Grad an Pflichterfüllung hinausgehende Tapferkeit im Kriegseinsatz aufweisen. Diese höchste englische Auszeichnung gewann Leonard Cheshire, aber seiner Schilderung der Kriegsjahre, so interessant und spannend sie ist, widmet er kaum sechzig Seiten. Während nach 1945 unzählige Flieger sich dem Alltag anpassen mußten, während es manchen gelang, einem soliden Beruf nachzugehen und andere nach weiteren Abenteuern Ausschau hielten, suchte Cheshire neue Wege einzuschlagen. Von seinen eigenen Ausschweifungen bald angewidert und der allgemeinen Nachkriegsstimmung bald überdrüssig, kam er auf die Idee, eine Gemeinschaft ehemaliger Frontkämpfer mit ihren Familien auf einem unbenutzten Flugplatz anzusiedeln: Auf vielfache Art und Weise sollte die Gemeinschaft versuchen, selbständig zu existieren und der Welt Selbsthilfe und Nächstenhilfe vorzuleben.

Wie zahlreiche Experimente, die schon vor diesem ausprobiert worden sind — seltsam, wie häufig gerade in England solche kurzlebige Laiengemeinschaften erscheinen — war auch diese kurzlebig. Indessen wurde Cheshire sich allmählich darüber klar, daß es einen lebendigen Gott gebe, der von ihm den völligen Einsatz seines Lebens verlange. Nur wußte er nicht wie: als Priester? In der anglikanischen Kirche fand er nicht die Sicherheit, die Disziplin und die Richtlinien, die er suchte. Schließlich war er infolge Überarbeitung und seiner inneren Unschlüssigkeit bis zum Zusammenbruch gekommen und mußte sich Ruhe gönnen, die Besinnung und auch religiöses Studium ermöglichten.

Cheshires großes Hilfswerk, das er — später mit seiner Frau — geradezu aus

dem Nichts und noch dazu schwer tbckrank gründete, heißt „Die Ryder-Cheshire-Mission für die Linderung des Leidens“. Es begann in einem großen, baufälligen und fast leeren Landhaus; es begann zufällig, fast widerwillig, mit der Aufnahme eines alten Sterbenden, für den im Augenblick nirgends ein Krankenhausbett aufzutreiben war. Kaum war er da, als eine schrullige, alte und ebenfalls schwerkranke Frau zu versorgen war.

Was ist merkwürdiger? Daß in einem modernen Wohlfahrtsstaat Krankenhäuser und Landärzte Sterbende diesem jungen Mann und seinen zwei Gehilfen anvertrauten? Oder daß Cheshire, Krieglheld, Mitglied der englischen Oberschicht, es selbstverständlich fand, neben Bodenscheuern und allen anderen Arbeiten die Leibwäsche alter, n Krebs sterbender Menschen zu waschen und auf dem Gang auf dem Boden zu schlafen? Langsam kam ein, wenig Ordnung in die Sache: sie hatten endlich etwas Geld, eine Krankenschwester gesellte sich zu ihnen; andere Stiftungen folgten. Aber heute noch ruhen die Fundamente der „Cheshire Homes“ auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Die Kranken helfen in kleinen Dingen und nach Kräften mit: sie bilden kein Siechenheim sondern eine Familie.

Cheshire wurde schon 1948 Katholik. Etwa zehn Jahre später heiratete er eine junge Frau, die sich wie kaum eine zweite um jene Flüchtlingslagerinsassen verdient gemacht hat, die keine Aussicht darauf hatten, in das normale Leben irgend eines Landes aufgenommen zu werden. Es war Susan Ryder, der wie Leonard Cheshire, die körperlichen Leiden der Menschen wichtig waren, aber noch wichtiger ihr Anspruch auf Liebe, Glück und Bewahrung ihrer persönlichen Würde.

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