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Drei Generationen

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Eines der großen Rätsel, deren Lösung zu suchen die Menschheit nicht müde wird, ist die Vererbung sowohl seelischer als auch geistiger Eigenschaiten und Fähigkeiten. Allzu gerne möchten wir verstohlene Blicke in die Werkstatt der Schöpfung tun, um hinter das Geheimnis unseres Schicksals zu kommen. Dabei fällt man immer wieder von einem Extrem ins andere. Einmal soll der Mensch gar nichts anderes sein als die runde Summe der Einflüsse, denen er im Leben unterliegt. Dann wieder schwört man, alles komme einzig und allein auf da „Erbgut“ an, wie und wo einer aufwächst und reift, sei ganz nebensächlich. Inzwischen hat sich aber ein wichtiges Ereignis vollzogen: die Naturwissenschaft ist vom Thron ihrer vermeintlichen Allwissenheit herabgestiegen, hat ihre Grenzen erkannt und begnügt sich damit, Tatsachen zu verzeichnen und im Rahmen unserer heutigen Erkenntnis daraus Schlüsse zu ziehen.

Zu der Arbeit empirischer Wissenschaft, die Wesen und Umfang der Vererbung zu verdeutlichen trachtet, sei da interessante Material beigesteuert, das die Lebensgeschichte der Familie Sitte, der drei Generationen Wiener Architekten, uns bietet. Als Wiener sind sie nach ihrem Hauptwirkungskreis anzusprechen, obwohl der Großvater, Franz Sitte, 1818 bei Reichenberg in Böhmen geboren ist und erst mit zwanzig Jahren nach Wien kam, sein Enkel, Siegfried Sitte, gebürtiger Salzburger war, und nur dessen Vater, Camillo Sitte, mit dessen Namen die Idee „Städtebau“ dauernd verbunden bleibt, 1843 „auf der Landstraße bei Wien“ zur Welt kam. Die Sittes bieten ein ungemein bemerkenswertes Beispiel, wie sich große Talente in einer Übergangszeit gleich der unseren ganz merkwürdig auswirken, indem sogar eines Tages teilweise auf das künstlerische Schaffen verzichtet wird, um dafür durch großzügigen theoretischen Aufbau künftige Bahnen für eine neue Entwicklung der geliebten Künste freizumachen. Ähnliche Beispiele ließen sich in Spätrom oder Italiens Renaissance entdecken, daß hochbegabte Künstler schöpfe rischem 'Wirken entsagten, nur um späterer Kunstübung die notwendigen Richtlinien zu schaffen.

In der ersten Generation der Architektenfamilie Sitte beherrscht die Praxis der Kunstübung noch in voller Ursprünglichkeit das Leben. Franz Sitte war das jüngste von 19 Kindern einer nordböhmischen Bauernfamilie und von Jugend auf befreundet mit dem gleichaltrigen (nachmaligen Historien- und Porträtmaler) Josef Führich. In dem kerngesunden lä dlichen Schlag eines Kulturvolkes sind offenbar alle möglichen Begabungen im Keim vorhanden und warten nur auf günstige Bedingungen zur Entfaltung. Franz Sitte wurde 1838 in Wien auf Grund mitgebrachter Zeichnungen ausnahmsweise sofort in die Architekturschule der Akademie der bildenden Künste aufgenommen, ein Lehrer war Pietro Nobile, der streng klassizistisch eingestellte Erbauer des Burgtors, Bei Nobile blieb Franz Sitte nur zwei Jahre, weil es ihn wie manche seiner Mitschüler zur Gotik hinzog, deren Neubelebung in München damals weithin zu wirken begann. Er erwarb seinen Unterhalt in freier Kunstübung als „Privatarchitekt“ und vermochte dabei so viel zusammenzusparen, daß er endlich zu Anfang der vierziger Jahre das München Ludwigs I. besuchen konnte. Dieser Aufenthalt wurde für sein Leben entscheidend durch die mit dem etwaä jüngeren Architekten Johann Georg Müller aus St. Gallen in der Schweiz geschlossene Freundschaft,

Das Jahr 1848 brachte in Wien nicht nur die politische Erhebung, sondern auch eine kleine Revolution auf dem Gebiete der Baukunst. Die junge österreichische Architektenschaft empörte sich gegen die Herrschaft des allmächtigen Hofbaurates Wilhelm Sprenger und fand den richtigen Wortführer in dem Schweizer Freund Sittes. Müller hatte inzwischen in Italien studiert und hielt in Wien einen Vortrag „über die neu zu erbauende Renaissancekirche in Alt- Lerchenfeld“. Das gab den Anstoß zu einer Petition an die oberste Baubehörde, eine kurzfristige neue Konkurrenz wurde ausge schrieben, der von Sprenger begonnene Bau eingestellt und das Projekt Müllers diesem selbst zur Ausführung übertragen. Aber schon im Frühjahr 1849 fiel er einem Lungenleiden zum Opfer und bestimmte letztwillig Franz Sitte zu seinem Nachfolger in der Bauleitung, der Müllers Pläne getreulich verwirklichte. Die Einweihung erfolgte 1861,

Die Alt-Lerchenfelder Kirche mit ihrer farbenprächtigen künstlerischen Ausmalung, die in der Hauptsache Sittes Jugendfreund Josef Führich schuf, bietet ein seltenes Beispiel gelungener Nachschöpfung in einem historischen Stil. Sie ist eines der schönsten Bauwerke Wiens geworden, der Eindruck des Inneren von Harmonie und Erhabenheit. Zweifellos hat die Größe und Schönheit dieses Gotteshauses auch auf den jungen Sohn Franz Sittes, Camillo, gewirkt, besonders was die Bedeutung der figuralen und ornamentalen farbigen Ausstattung solcher Räume anlangt.

Camillo Sitte wurde an der Wiener Technik Schüler Heinrich von Ferstels, des Erbauers der Votivkirche, besuchte aber auch archäologische und kunsthistorische Vorlesungen an der Universität, wo der tiefschürfende Reformgeist Rudolf von Eitelbergers auf ihn großen Einfluß gewann. Der rege freundschaftliche Verkehr mit hervorragenden Gelehrten und Künstlern, darunter mit Hans Richter, dem Intimus Richard Wagners, bestärkte Camillo Sitte in seiner Ausrichtung auf das Gesamtkunstwerk, der er zeitlebens treu blieb. Er arbeitete im Atelier seines Vaters, unternahm Studienreisen und schuf in Wien unter anderem die Mechitaristenkirche, doch entschloß er sich unter der Ungunst der Verhältnisse, einen Auftrag zu übernehmen, der mit Kunst nur mittelbar zu tun hatte: da Unterrichtsministerium betraute ihn mit der Gründung der ersten Staatsgewerbe schule in Salzburg.

Damit begann Camillo Sittes Ablenkung von ausschließlich praktischer Architektenwirksamkeit. Aber vielleicht verbarg sich etwas anderes unter dieser schicksalhaften Wendung. In der Blüte eines Epigonenzeitalters mag es gerade den genialen Menschen vom Schaffen wegdrängen, das ihn nicht mehr voll befriedigt. Es zieht ihn magisch die Aufgabe an, der Zukunft eine urkräf- tige, doch von lebendiger Tradition getragene Kunstschöpfung wieder zu ermöglichen und dafür bindende Regeln aufzustellen. In anderer Weise, doch mit der gleichen Grundtendenz werden wir denselben Zug bei dem älteren Sohn Camillo Sittes, Sieg fried, wiederfinden, während der jüngere Sohn, Heinrich Sitte, Professor der Kunstgeschichte an der Innsbrucker Universität ist„ zu welchem Beruf es auch seinen Vater immer wieder hinzog.

Im Jahre 1883 übernahm Camillo Sitte die Gründung und Einrichtung der Staatsgewerbeschule in Wien. Daneben schuf er mustergültige Planungen, veröffentlichte kleinere Arbeiten über kunstgewerbliche Themen und ließ endlich 1889 sein epochemachendes Buch, „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“, erscheinen. Es wurde in fremde Sprachen übersetzt und ist, wie alle wirkliche Erkenntnis, auch heute noch nicht überholt. Seiner vielfältigen Wirksamkeit — er war unter anderem ein vorzüglicher Cellist —, den Reisen, Vorträgen, einem regen Verkehr mit vielen geistig hochstehenden Menschen war Camillo Sittes Konstitution auf die Dauer nicht gewachsen, er starfe 1903. Seine letzten Gedanken galten einer Art Menschheitsdenkmal, einem phantastischen Turm am Meer, worin alle Känste zur Wirkung kommen sollten.

Die äußeren Konturen des I/fcbens seines Sohnes Siegfried ergeben sich vorerst aus der hochkünstlerischen Umwelt seines Vaterhauses, auch bei ihm finden wir neben Kunstschaffen vielfältige Lohr- und schriftstellerische Tätigkeit. Aber das Streben nach Gewinnung grundsätzlicher Erkenntnisse, um der Baukunst die größten Hindernisse aus dem Weg zu räume/n, steigt, dem Geiste der Zeit wie der Notwendigkeit entsprechend, tiefer als bei. seinem Vater in das materielle Gebiet hyhab.

In Deutschland hatte Adolf Damaschke die sogenannte „Bodenreform“ unter Benützung von Ide n des Amerikaners Henry George zu eitiem Propagandainstrument für die Beseitigung fiskalischer und anderer Hemmungen des Ausbaus der Städte gestaltet. Siegfried Sitte ging weit darüber hinaus, wev? er sah, daß nicht nur das Bauwesen, sondern die Wirtschaft überhaupt unter einer verkehrten Besteuerung leidet, darum widmete er sich der Schaffung einer Theor/e, deren Endziel der Ersatz produktionshemmender Steuern durch die Boden wembgabe ist. Für diese Arbeit lieferte ihm der ungeheure Schatz an Wissen,’ den ihm so?n Vater hinterließ, und die Vermehrung durch den unermüdlichen Fleiß seines eigenen, fast siebzigjährigen Lebens (er starb 1944), alle nur möglichen Unterlagen.

Das Wort „Bodenreform“ sollte man schon als sprachliches Ungetüm gänzlich ausschalten, überdies ist es durch den Mißbrauch in vielen Ländern schwer kompromittiert. Die Ausarbeitung einer grundlegenden, wohldurchdachten Steuerreform ist Siegfried Sittes bleibendes Verdienst. Er hat einen Sohn hinterlassen, der hoffentlich eines Tages aus der Gefangenschaft in fernen Landen heimkehren wird, als Vertreter der vierten Generation Wiener Architekten, und dann das Familienerbgut des Hauses Sitte: Gründlichkeit, Zähigkeit, Originalität des Denkens, gut verwalten mag.

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