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Y psilon

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Ypsilon, aus y psilon zusammengezogen, bedeutet „bloßes y“, zur Unterscheidung von den mit y zusammengesetzten Diphthongen ay, ey, oy. Gesprochen wird es wie unser Umlaut ü. Die Gestalt des großen Y läßt sich als ein Weg, der in zwei Seitenwege ausläuft, auffässen. Im Altertum galt Y als Symbol der „Dreiwege“ und hatte magische Bedeutung. Auf Dreiwegen erschien in stürmischen Nächten Hekate, die Göttin des Spuks und Zauberwesens, mit ihrem Schwarm von Gespenstern und brachte dem Wanderer Schrecken und Wahnsinn. Ein Dreiweg war es auch, wo die Untat geschah, daß Oedipus seinen Vater Laios erschlug. In der Psychoanalyse spielt der Oedipuskomplex eine wichtige Rolle. Das Christentum machte dem Dreiwegspuk ein Ende. Wo der Hekate mit scheu abgewändtem Blick Opfer dargebracht wurden, stehen jetzt Kapellen und Kreuze. Für abergläubische Gemüter aber sind Dreiwege auch heute noch unheimlich.

Seiner Herkunft entsprechend, dürfte y nur in griechischen Fremdwörtern geschrieben werden. Doch war dieser Buchstabe früher auch in deutschen Wörtern sehr gebräuchlich. In Goethes „Urfaust“ lesen wir: drey, sėy, seyn, bey, Brey, pfuy; auch im Wortinnern wird dieses falsche y geschrieben, zum Beispiel meynen, Feyertag, Frey tag (der Tag der germanischen Göttin Freia). Der Grund dieser Schreibung ist kein grammatischer, sondern ein optischer: Der Buchstabe y sieht stattlicher aus als das unscheinbare i. Kurze Wörter bekommen, mit y geschrieben, ein volleres Aussehen als mit i. Diese Schreibweise dauerte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Im Englischen wird bis heute im Wortauslaut regelmäßig y statt i geschrieben. Aus deutschen Wörtern aber wurde es durch orthographische Konferenzen verbannt. Doch hat sich das y in neuerer Zeit wieder eingeschlichen, und zwar in Kurz- und Koseformen weiblicher Vornamen. Nach dem Muster des englischen Mary schreibt man Mejly, Relly, Emmy, Elly, weil das schöner aussieht und als vornehmer gilt als Meili usw,

Des besseren Blickfangs wegen druckt man auch auf Werbeplakaten „Tyrol“ und hofft, vielleicht dadurch mehr Fremde anzuziehen als mit „Tirol“. Gesprochen wird dieses y aber in allen Fällen wie i.

Das echte, wie ü gesprochene y ist also nur in Wörtern, die aus dem Griechischen stammen, zu schreiben. Daher kommt es auch, daß man in Büchern und Zeitungen immer häufiger griechische Fremdwörter falsch geschrieben findet. Die abnehmende Kenntnis des Griechischen ist auch eine der Ursachen für die häufige Verwechslung von y und i. Als krasses Beispiel hierfür konnte man einst im Wiener Prater auf einer Tafel lesen „Zum Hypodrom“, womit eine Pferderennbahn gemeint war. Richtig muß es heißen „Hippodrom“ von hippos — Pferd und dromos == Lauf. Von hippos kommt zum Beispiel Hippopotamos — Flußpferd. Das große Interesse der Griechen an Pferden beweisen die mit hippos zusammengesetzten Personennamen, wie Phil-ippos (Philipp) ±= Pferdefreund, Hippokrates — Pferdegewaltig, der Begründer der wissenschaftlichen Medizin (4. Jahrhundert v. Chr.), Leukippos (= Weißpferd, Schimmel) und die berüchtigte Gemahlin des Sokrates Xanthippe = Blondpferd, Falbe. Philos heißt lieb, Freund. Daher Philosoph = Weisheitsfreund, Philosophie = Weisheitsliebe. Der Name Sophie bedeutet also Weisheit. Der Heiligen Weisheit, nämlich Gottes, ließ Kaiser Justinian (6. Jahrhundert n. Chr.) in Konstantinopel die berühmte Sophienkirche erbauen, den großartigsten Kuppelbau der Welt. Von philos kommt ferner Philologie = Liebe zur Sprache, Philanthrop = Menschenfreund, Philharmoniker = Musikfreund, Theophil = Gottlieb u. a. Vom Stamme Philo wohl zu unterscheiden ist Phylo = Stamm in Phylogenese = Stammesentwicklung und Phyllo = Blatt in Chlorophyll = Blattgrün. Die Vorsilbe Hypo aber bedeutet unter. Hypothek heißt Unterlage, Unterpfand; Hypotrophie = Unterernährung (Gegenteil Hypertrophie = Üeberernährung). Hypothese = Unterlegung,

Annahme; Hypotenuse (nicht mit th zu schreiben!) die sich darunter hinziehende Linie.

Am Gymnasium liest man die Satiren des Horaz, in denen der Dichter die Zustände seiner Zeit verspottet. Während die Römer in allen übrigen Dichtungsarten griechischen Vorbildern folgten, ist die Satire als original römische Schöpfung anzusehen. Wer daher Satyre und satyrisch schreibt und so das Wort zu einem griechischen stempelt, vergeht sich am geistigen Eigentum der Römer. Dieser Fehler beruht auf Vermischung des lateinischen Wortes Satire mit dem griechischen Satyr. Satyrn aber sind Bockmenschen, die Begleiter des Dionysos, des Gottes der Fruchtbarkeit und des Weines, dem der Bock heilig ist. Satyrspiel ist ein kurzes Stück mit heiterer Handlung mythologischen Inhalts, das nach je drei Tragödien an den Dionysos- Festen im Dionysos-Theater, dem Burgtheater von Athen, aufgeführt wurde. Satyrspiel heißt es, weil in ihm der Chor im Satyrkostüm auftritt. Nach Aristoteles ist das Satyrspiel eine Vorstufe der Tragödie, die ein religiöses Festspiel zu Ehren des Dionysos war. Der Name Tragödie bedeutet Bocksgesang und weist auf die „Geburt der Tragödie“ aus dem Dionysoskult hin. Die Urzelle des Dramas aber ist nach dem Zeugnis desselben Aristoteles der Dith rambos, ein feierliches Chorlied, in dem der leidende und triumphierende Gott Dionysos besungen wurde.

Es gibt eine Reihe griechischer Wörter, wie Dith rambos und Dionysos, in denen i und y vorkommt. Von Dionysos abgeleitet ist Dionysius, Dionys, der Name des durch Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ bekannten Tyrannen von Syrakus. Durch Schiller bekannt ist auch der Dichter Ibykus. Homer läßt den Odysseus in der Unterwelt die drei Büßer sehen: Tantalus, seine sprichwörtlichen Qualen erleidend, Tityos, den Riesen, dem ein Geier die immer wieder nachwachsende Leber zerfleischt, und Sisyphos, der die „Sisyphusarbeit“ verrichtet. Er muß einen Felsblock einen Hügel hinaufwälzen, doch kaum erreicht er den Gipfel, so rollt der Stein wieder hinab. Die ErinnyeH, „das furchtbare Geschlecht der Nacht“, von den Römern Furien genannt, verfolgen unerbittlich dert Mörder.

In umgekehrter Reihenfolge, also zuerst y, dann i, treten diese Laute auf in Hyazinthe, jeher prächtigen Blume, die aus dem Blute des Lieblings Apollos, Hyakinthos, entsprossen ist, der beim Diskuswerfen vom Gott zu Tode getroffen wurde. Die kalte Narzisse hingegen hat ihren Namen Von dem schönen Jüngling Närkissos, der sich in sein Spiegelbild verliebte. Wie Oedipus, ist auch Narzissus in die Psychoanalyse eingegangen. Nach dem Apostel Cyrillus ist die aus der griechischen entstandene cyrillische Schrift der slawischen Völker benannt.

Zum Schluß sei ein Wort angeführt, in dem rh, y und th nebeneinander auftreten, nämlich Rhythmus. Es kommt vom Stamme rheu, rhy = fließen (davon auch Rheuma und Rheumatismus) und bedeutet eine regelmäßig fließende Bewegung. Das Gegenteil von Rhythmus und rhythmisch ist Arrhythmie und ar hythmisch, aus sprachgeschichtlichen Gründen mit zwei r zu schreiben. Die ’Lautgruppe rrh erscheint auch in Kata-rrh(us), Herabfluß, und Dia-rrhoe, Durchfluß. Die Vorsilbe a oder an entspricht dem deutschen un-, ohne. So heißt A-theist ein Mensch ohne Gott, Analphabet ein Mensch ohne Alphabet, an-onym namenlos. Ana hingegen bedeutet auf; daher Analyse Auflösung, Anatomie Aufschneidung. Setzt man dem Stamme tom = schneiden das verneinende a voran, so entsteht das Wort Atom, das also das Unschneidbare, Unteilbare, unendlich Kleine bedeutet. Die folgenschwere Lehre von den Atomen als Bausteinen der Materie stammt von Leukippos und wurde von seinem Schüler Demokrit (5. Jahrhundert v. Chr.) zur materialistischen Weltanschauung ausgebaut, die noch in der Gegenwart weiterlebt.

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