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Er mied Begräbnisse, holte sich aber Schillers Schädel ins Haus

Als im Jahre 1782 Goethes Vater starb, eilte der damals 33 Jahre alte Sohn weder ans Sterbelager noch nahm er am Begräbnis in Frankfurt am Main teil. Ebenso verhielt er sich beim Tod seiner Mutter im Jahr 1808. Am 6. Juni 1818, dem Sterbetag seiner Frau Christiane, vertraute er seinem Tagebuch an: "Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus. Ich den ganzen Tag im Bett."

Goethes Freundin Frau von Stein, sie war sieben Jahre älter als er, kannte ihn so gut, dass sie in ihrem Testament bestimmte, der Trauerzug von ihrem Haus zum Friedhof solle einen Umweg machen, damit er nicht an Goethes Haus am Frauenplan in Weimar vorüberkäme. Und der Tod seines Freundes und Gönners, des Großherzogs von Weimar, trieb den 79-jährigen Goethe gar aus der Stadt.

Er verdrängte den Tod. Wie aber ist es dann zu erklären, dass er 21 Jahre nach Schillers Tod dessen Schädel, den man sechs Monate zuvor unter den zerborstenen Särgen und verwesenden Leichen einer Weimarer Friedhofsgruft hervorgeholt hatte, heimlich in sein Haus bringen ließ? Auf einem blauen Samtkissen bewahrte er ihn unter einem eigens angefertigten Glassturz fast ein Jahr lang auf. Bis ihn der Landesfürst eilig schriftlich um die Rückerstattung bat, denn eigentlich war der Platz für die Reliquie in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, wo ihn König Ludwig von Bayern sehen wollte. Der Goethe-Fachmann Albrecht Schöne gibt in seinem soeben erschienenen Buch "Schillers Schädel" eine mögliche Erklärung für Goethes seltsames Verhalten gegenüber den sterblichen Resten des Freundes, indem er einen Satz des 32-jährigen Goethe zitiert, er behandle "die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles menschliche anhängen lässt".

Goethes Forschungen an Knochen waren beeinflusst von dem Wiener Arzt Franz Joseph Gall. Dieser hatte behauptet, man könne von den sichtbaren oder tastbaren Erhebungen und Einsenkungen des Schädels auf die immateriellen Leistungen des Gehirns schließen. Gall war in ganz Europa berühmt, was Kaiser Franz II. nicht daran hinderte, ihm seine überaus beliebten Vorlesungen in Wien zu verbieten. Goethe hatte einen Vortrag Galls in Halle gehört, war von dessen Lehre angetan und hat sich auch später, als jüngere Forscher auf den Unsinn der Gallschen Behauptungen hinwiesen, nie zu einem ausdrücklichen Eingeständnis seines Irrtums aufraffen können.

Gezeigt hat er Schillers Schädel übrigens nur einem einzigen Besucher, nämlich Wilhelm von Humboldt. Dieser schrieb seiner Frau: "Heute nachmittag habe ich bei Goethe Schillers Schädel gesehen ... Was man lebend so groß, so teilnehmend, so in Gedanken und Empfindungen bewegt vor sich gesehen hat, das liegt nun so starr und tot wie ein steinernes Bild da."

Zwei Tage, nachdem Goethe den Schädel erhalten hatte, löste dessen Anblick bei ihm einen poetischen Produktionsschub aus. Er schrieb das letzte seiner großen naturphilosophischen Altersgedichte. Ohne direkt auf Schillers Schädel Bezug zu nehmen, heißt es in diesen Terzinen: "Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!" Goethe wird der Anblick des Schädels zu einer Offenbarung der Gott = Natur. Das Gleichheitszeichen hier ist wichtig, denn für Goethe waren Gott und Natur eins. Was "aus dem ernsten Beinhaus" kommt, spricht zu ihm, "als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge". An einen Freund hatte Goethe geschrieben: "Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muss sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen."

Schöne lässt auch am Entstehen eines der großen Gedichte teilhaben, indem er Einflüsse und Anregungen aufdeckt. Darüber hinaus liefert er die schier unfassliche weitere Geschichte von Schillers Schädel plus Gebeinen, dazu auch noch die von Goethes sterblichen Überresten bis hin zu Hitlers letztem Befehl vom 29. April 1945, der dem "Volk der Dichter und Denker" auch seine nationalen Heiligtümer vernichten wollte. Ein deutscher Arzt rettete die beiden Särge vor der Sprengung.

Schillers Schädel

Von Albrecht Schöne

Verlag C. H. Beck, München 2001

110 Seiten, brosch., e 12,40 / öS 171,-

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