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Begegnung in Rom

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Anfang März 1832 traf der österreichische Oberstleutnant Anton Graf von Prokesch-Osten — damals noch Ritter von Osten — in Rom ein, wohin ihn Metternich in einer diplomatischen Sendung militär-politischen Charakters zur Mitarbeit an einer Neugestaltung der reformbedürftigen päpstlichen Armee des Kirchenstaates delegiert hatte. Die fünf Monate seines Aufenthaltes in der Ewigen Stadt zählte Prokesch später zu der an Erlebnissen der Kunst und an Begegnungen mit „gleichdenkenden, gleichfühlenden, reichbegabten, edlen und schönen Menschen“ reichsten Zeit seines Lebens, genossen in einer niemals wiederkehrenden Lebensfrische.

Zu Menschen dieser Art gehörte für Prokesch auch der als Geschäftsträger, später als Ministerresident Hannovers beim päpstlichen Stuhle wirkende Legationsrat August Kestner, den Prokesch schon bei seiner ersten Sendung im Jahre 1831 beim preußischen Gesandten Bunsen flüchtig kennengelernt hatte. Mit erhöhtem Interesse trat Prokesch ihm am 13. März 1832 wiederum bei einer Soiree Bunsens entgegen, seit er erfahren hatte, daß Kestner der Sohn der als Mädchen vom jungen Goethe so leidenschaftlich umschwärmten Charlotte Buff aus Wetzlar war, der aus „Werthers Leiden“ bekannten Lotte. Zudem war es in Rom bekannt, daß der Legationsrat die gesamte, bis 1798 fortgeführte Korrespondenz Goethes mit dem Kestner-Haus in Hannover pietätvoll bei sich in Rom verwahrte und sie als nationalen Schatz ansah. Wohl Grund genug für Prokesch, der Autogrammen und Originalschriften berühmter Schreiber eifrig nachjagte, zu hoffen, auch in Kestners Briefsammlung Einsicht gewinnen zu können.

Beide Männer wohnten nicht weit voneinander. Kestner im Piano nobile des Palazzo Tomati in der Via Gregoriana, wo er seine vielen Gäste in den zu einem Museum voll ägyptischer und römischer Altertümer eingerichteten, mit Sammlungen und eigenen Zeichnungen und Gemälden ausgestatteten Räumen zu empfangen pflegte. Prokesch wohnte unweit davon an der Spanischen Treppe, an deren oberstem Plateau die Via Gregoriana gegen den Pincio hin ausläuft. So kam es zu täglichen Begegnungen der beiden Diplomaten sowohl am gleichen Weg wie auch in und außerhalb des Museums Kestners. Am 15. März, den unseligen Iden des antiken Monats, begleitete Prokesch Kestnern, der sich Ortsfremden gegenüber gerne zum kundigen Romführer machte, in die Sammlungen des Vatikans, dessen griechische Plastiken aber einem Manne wie Prokesch nicht genug taten, der Griechenland und den Orient in sechsjährigen Reisen bis zu den Katarakten des Nils hinab kennengelernt hatte und römische Kunstdinge vielfach nach griechischen Mustern oder in ihrem Verhältnis zu Ägypten maß — wobei an dieser Stelle daran erinnert sei, daß es Prokesch als österreichischem Gesandten in Athen später selbst gelang, aus einem Brunnen im Peloponnes jene kostbare archaische Statue des sogenannten Apollo von Tenea zu heben, die dann im Wiener k. k. Antikenkabinett und später in der Glyptothek zu München aufgestellt wurde. Am 22. März — dem Tag, an dem Goethe in Weimar zum Sterben kam — besuchte Prokesch nach einer lang dauernden politischen Audienz bei Papst Gregor XVI. und nach einem Empfang bei Bunsen des Abends noch mit Kestner den Salon der Lady Coventry, den Treffpunkt der römischen Gesellschaft im Winter. Zwei Tage darauf folgte er einer Einladung Kestners, der ihn in seinem Museum für sein Gästealbum zeichnerisch porträtierte, ihm von Goethes Beziehungen zu Lotte erzählte, ihm Briefe Goethes an das Kestner-Haus zeigte und aus ihnen vorlas. Freudig berichtete Prokesch nach Wien, daß es ihm dabei gelungen war, dem Besitzer einen Originalbrief Goethes „abzubetteln“ und für seine Sammlung nach Hause zu tragen. Seinem teilnehmenden Interesse an der Kestner-Familie kam Lottes Sohn in Rom durch stets neue Mitteilungen entgegen, so bei einem Besuch unter vier Augen am 30. März und tags darauf bei einer Soiree im Palazzo Tomati, wo Engländer dominierten; von diesen schrieb Prokesch nach Hause, daß sie in den Fremdenzirkeln Roms den Ton angeben und die „Eingeborenen“ und die Französinnen Roms überbieten. Freudig begrüßte er dort auch den Bildhauer Thor- waldsen, dessen „weißumlocktes, geistvolles Haupt“ den späteren Grafen schon seit Beginn seiner Romtage angezogen hatte. Vielleicht noch tiefer angelegt als mit Kestner scheint der Verkehr Pro- keschs mit diesem „edlen Dänen“ gewesen zu sein, da beide in ihren klassizistischen Kunstanschauungen und in der Bevorzugung der griechischen Kunst vor der römischen übereinstimmten.

Von diesem letzten Märztag 1832 an bis Prokeschs Abschied von Kestner und Rom am 24. Juli schweigen, ohne daß der gegenseitige Verkehr auf gehört hätte, sowohl die Tagebücher als die nun so reichlich vorliegenden Briefe Prokeschs nach Wien.

Aber eben bei dem, was die beiden Männer in Rom, den Hannoveraner und den Österreicher aus Graz, in ihren Begegnungen, Besuchen und Gesprächen in ihrer Erinnerung an den jungen Goethe wie an den noch als mitlebend gedachten Greis in Weimar so tief bewegt hatte, eben bei dem stand ein täuschender Stern über ihnen, der nicht mehr war, der aber dennoch seinen Schein wie ein glänzendes Licht aus der Ferne über sie warf. Denn beiden war es unbekannt, daß,- während sie sein Leben noch besprachen, Goethe in Weimar bereits verschieden, daß er als ein Souverän des Geistes in der Fürstengruft beigesetzt und daß die Totenfeier für ihn am Hof- theater von Weimar bereits zwei Wochen zuvor vorübergerauscht war, ehe die römischen Freunde zur Kenntnis vom Tode des Geistesfürsten gelangten. Denn Prokesch hörte von dem Ereignis erst an einem Abend bei Bunsen am 5. April durch eine Meldung, „daß Goethe am 22. März gestorben sein soll“. Schmerzvoll zweifelnd schreibt er darüber in sein Tagebuch: „Kann ein solcher Geist denn ausgeloschen sein?“

Mit dem Austritt Goethes aus der Welt erlosch bei Kestners eine schon 60jährige, an Goethe gebundene Familientradition; es zerrissen damit auch die letzten Beziehungen zum lebenden Goethe im „Teutschen Haus“ in Wetzlar, das dem Deutschen-Ordens-Amtmann Buff gehört hat, und die im Kestner-Haus in Hannover. Seine Lotte von einst hatte der Dichter zum letztenmal im Jahre 1816 in Weimar gesehen, als bereits 63jährige Mutter von zwölf Kindern. Ihr Sohn August in Rom hatte noch wenige Jahre vorher das Porträt der 1828 verstorbenen Mutter gezeichnet und es dort Prokesch sehen lassen. Und eben diesem viertältesten Sohn Lottens, dem diplomatischen Vertreter Hannovers in Rom, August Kestner, fiel noch zwei Jahre vor dem Tod des altgewordenen Jugendfreundes Lottens schicksalhaft eine persönlich’ Mission an Vater Goethe zu, als dessen einziger Sohn August, mit Kestner befreundet, im Jahre 1830 in Rom starb. Er war nach einem Herbstausflug in die Albanerberge mit Friedrich Preller, dem Maler der Odysseelandschaften des Weimarer Museums, und mit Kestner in dessen Haus gekommen und verschied dort an einem Gehirnschlag in Kestners Armen. Dieser übermittelte die Nachricht nach Weimar, er besorgte das Begräbnis bei der Cestius-Pyramide, bei der einst Goethe selbst begraben zu sein wünschte, und setzte die vom Vater verfaßte Grabschrift „Goethe filius patri antevertens“ unter das von Thorwaldsen gemeißelte Porträtrelief der Grabsäule.

Die Verbundenheit mit Goethe, die im Kestner-Haus Familientradition gewesen war, floß bei Prokesch aus einem unvergeßlichen, persönlichen Erlebnis mit dem Dichter. Der Generaladjutant des Fürsten Karl zu Schwarzenberg, des Siegers in der Völkerschlacht bei Leipzig, Graf Johann Paar, hatte ihn im Jahre 1820 in Jena Goethe „zugeführt“, und dort wie in Weimar war der 25jährige Österreicher vom 70jährigen Dichter mit ihn geradezu auszeichnender, herzlicher Liebenswürdigkeit aufgenommen worden. Prokesch schrieb unmittelbar darauf an seinen Stiefvater Schneller nach Freiburg, wie Goethe ihm Stadt und Umgebung gezeigt, ihn in seinem Weimarer Haus am Frauenplan seine Sammlungen und den Hausgarten sehen ließ, ihn mittags und abends zu Tisch lud, über sein Leben und Schaffen mit ihm sprach und dem Scheidenden noch bis gegen Mitternacht aus seinem „Westöstlichen Divan“ vorlas, ehe er den Gast mit eiaer herzlichen Umarmung entließ. — „Von diesem Manne umarmt“, schrieb Prokesch, „ich gebe die seligste Umarmung der Liebe dafürl“ In Gesprächen seiner eigenen Altersjahre noch bewahrte der Graf mit der lebendigen Erinnerung an seinen Besuch bei Goethe auch wie Kestner die ungebrochene Anhänglichkeit an den Dichter.

Seine erste Begegnung mit Kestner schilderte Prokesch in dem Rombrief vpm 1. März 1832 an seine Braut Irene von Kiesewetter in Wien:

„… Denke, was ich für eine merkwürdige Bekanntschaft gemacht habe, diejenige mit dem Sohne von Wertere Lotte. Er heißt Kestner, und ist hanöverischer Legationsrath u. Charge d’affaires hier, ein Mann von vielen Kentnissen, sehr milden Formen, wohlhabend, voll angenehmer Talente, etwas schwach vom Körper, jetzt etwa 50 Jahre alt, sonst aber in jeder Beziehung mehr werth als dein Anton. Er wies mir Stüde für Stück ein Päckchen Briefe Göthe’s an Lottes älteren Bruder aus den Jahren 1774 bis 1776 vor, also kurz nach seiner Leidenschaft für dieses Mädchen ge-schrieben, die zu einem der erstaunlichsten Erzeugniße unserer Litteratur Gelegenheit wurde. Fast in jedem ist Lotte s erwähnt. Sonst sind die Briefe ziemlich unbedeutendes Inhaltes, flüchtig, aber welche Schätze doch! — waß ist Dufay, was wäre Cerone, wenn es mir gelänge, denselben zu stehlen ü. im Triumph nach Wien zu bringen, gegen den Brief des Dr. Göthe aus Frankfurt an Herrn Hanns Buff der Wissenschaft Beflissenen zu Gießen, der von nun an meine Handschriftensammlung zieret! — Ja, erstaune nicht; es ist so; ich habe Kestnern einen solchen abgebettelt. Es hat Mühe gekostet, aber Gott hat meine Rede gesegnet!

Durch Kestner erfuhr ich, daß Lotte die Tochter des deutschen Ordensamtmann Buff aus Wetzlar u. mit Albrecht Kestner versprochen war, als der junge Göthe sich in sie verliebte. Ein junger Jerusalem, Bekannter der beiden, erschoß sich damals aus Lebensüberdruß. Dieses Ereignis regte die Phantasie Göthes sehr lebendig an. Daraus u. aus der Geschichte seiner vergeblichen Liebe entstand in wenigen Wochen der Werther.

Daß Gesindel der Witzlinge hier nennt Kestnern, weil er so zart u. mager aussieht, Werthers Leiden. Alles Fremde hat hier Spitznamen u. der des französischen Both- schafters, Graf S. Aulaire, ist schlagend. Denke dir ein überaus artiges Männchen in Schuh u. Strümpfen, zuvorkommenden Antlitzes, langer Nase, blaßer Farbe u. gepuderten Kahlkopf: das Volk nennt ihn: ,il barbiere diplomatico …’

Wir erwarten den König v. Baiern hier: ich aber insbesondere — warum kann ich nicht sagen, dich! — doch wenigstens Briefe von dir. Sie werden mich beruhigen… und mir deinen Blick in die Zukunft erheitert zeigen. Sollte sich die Aussicht nach Griechenland dennoch erfüllen? Ich habe den Boden mir schon einmal unter den Füßen weichen gesehen u. trete daher nur mit Mißtrauen darauf. Sehr liegt mir daran, die Ansicht unseres gemeinschaftlichen Freundes zu kennen; besprich die Sache ganz mit ihm u. schreibe mir umständlich darüber. Ich wünsche, ich will diesen Posten, weil er mit einem Male alle Zweifel endet u. das Loos über unser Beider Leben wirft.;. Sey umarmt von deinem Anton.“

Der im vorstehenden Brief Prokesdis an Irene ohne Inhaltsangabe erwähnte Goethe-Brief an Hans Buff läßt sich nun mit seinem vollen Inhalt in die Reihe der übrigen Goethe-Briefe, die Kestner besaß, einstellen. Denn in der Tagebuchnotiz vom 24. März, dem Tag, an dem Prokesch sich von Kestner porträtieren ließ, spricht er von den dort eingesehenen Goethe-Briefen Kestners nur in ihrer allgemeinen Charakteristik und schreibt als eine Probe derselben, ohne sich als dessen Besitzer zu bekennen, eben diesen““ Brief vollinhaltlich ab. Dieser Tagebuch- brieftext findet sich nun in gleicher Worttreue und ungekürzt auch in jenem Sammelband aller an Angehörige der Familie Kestner gerichteten Goethe- Briefe aus und nach der Werther-Zeit bis 1798, den August Kestner in Rom noch vor seinem Tod daselbst (1853) zur Herausgabe vorbereitet hatte und der 1854 bei Cotta, Stuttgart und Tübingen, erschien; sein Titel war „Goethe und Werther“. Kestner hatte von dem an Prokesch abgegebenen Originalbrief eine Kopie zurückbehalten, die in der Ausgabe unter Nummer 74 aufscheint und für die Zeit vom Mai 1773 angenommen wird. Dieser mit der Originalabschrift im Tagebuch des Grafen von Prokesch völlig identische Text läßt so den Inhalt des Geschenkbriefes und seine Datierung gesichert erscheinen.

In ihrem Antwortschreiben aus Wien vom 12. April beglückwünschte Irene von Kiesewetter ihren Bräutigam in Rom zur Bekanntschaft mit Kestner und noch viel mehr zur Akquisition des Goethebriefes für die Sammlung Prokesdis. „Wie interessant“, schreibt sie, „und besonders jetzt nach Göthes Tod.“ — Irene aber hatte noch etwas Besonderes mit dem Brief ihres Anton aus Rom vor. Sie wollte anfangs den alten, intimen Freund des Hauses, den schon oben erwähnten Grafen Johann Paar, zu pinem Besuch bitten, um ihm von der neuen Bekanntschaft Antons zu erzählen, begnügte sich aber damit, dem Grafen die Kestner- Stellė des Briefes auszugsweise mitzuteilen. Mit feinem weiblichem und bräutlichem Empfinden redigierte sie manchen Wortlaut des Originals, so änderte sie jede persönliche Anrede wie „Du“ oder „Dir“ auf ein allgemeines „man“ ab und strich endlich einen Satz ganz. Nämlich Gemeint ist Friedrich von Gentz. (Z.) jene Bemerkung des Schreibers, daß sein neuer Freund „mehr wert sei als ihr Anton“. Irene, die den häufigen Stimmungsumschlag und die grundlos, aber wiederholt ausbrechenden Minderwertigkeitsgefühle Prokesdis besser kannte als jeder andere, wollte diese Schwächen ihres Bräutigams auch seinem besten Freunde nicht einbekennen. In dieser Form ging der Brief am 18. April an Graf Paar ab.

Im römischen Kestner-Heim, im Palazzo Tomati, waren die durch kaum fünf Monate gehenden Besuche des österreichischen Diplomaten Prokesch-Osten nur ein Kapitel aus der durch mehr als ein halbes Jahrhundert dort sich abspielenden stadtrömischen Gesellschaftsgeschichte. Šie hatte schon vor der Ankunft Goethes in Rom begonnen, damals, als in dem durch einen Garten vom Vorderhaus getrennten rückwärtigen Trakt des Palazzo, genannt die Casa Buti, deren Front an der Via Sistina lag, der alte G. B. Piranesi noch die wunderbaren Kupferstiche seiner Veduten von Rom schuf und in seinem vielbesuchten Atelier daselbst Gäste und Käufer empfing. Auch Thorwaldsen war einer der ersten Mieter dort; großzügig wurde der Verkehr im Palazzo Tomati erst durch den preußischen Gesandten Wilhelm von Humboldt, dessen gastfreies Haus allen Landsleuten deutscher Zunge offen stand. Um und nach der Jahrhundertwende von 1800 stieg der Zustrom deutscher Gelehrten und Künstler von überall her, die sich gelegentlich auch eine besondere Lebensführung in der römischen Umwelt zurechtlegten. Auch der Palazzo Tomati nahm gastlich auf, wer immer kam, und baute so seine Beziehungen zur deutschen Kulturwelt aus. Diese erloschen erst mit dem Tod August Kestners (1853), der das große Buch des damaligen deutsch-italienischen und internationalen Kulturlebens in Rom schloß. Aber nur vorübergehend. Denn spätere Geschlechter aller Nationen wandelten und wandeln heute noch ebenso, untereinander wie mit Rom verbunden, in der keinem strebenden Gast sich verschließenden kosmopolitischen, ewigen Weltstadt am Tiber.

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